Ostkante
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Routen Details:
Winterbegehungen. Am 22. und 23. Dezember 1957 erkletterten Jörg Lehne und Siegfried Löw erstmals im Winter die Däumling-Ostkante.
Quelle: Mitteilungen des DAV 1958, Heft 2, Seite 31
Die Däumling-Ostkante im Winter
Beide müssen wir uns an die total vereisten Perlonseile hängen, bis wir sie endlich frei bekommen. Die letzte 40 Meter lange Abseilstelle liegt hinter uns. Wir klettern noch eine steile Schneerinne hinunter, dann stehen wir wieder bei unseren zurückgelassenen Sachen am Fuße der Däumling-Ostkante. Und immer noch fegt der Föhnsturm lange Fahnen glitzernder Schneekristalle über den Boden des weiten Schneekars, wenn auch nicht mehr ganz so heftig wie am Vortage, als wir einstiegen.
Wieder schauen wir auf das Schneefeld, das abschreckend steil in die Schrofen des südseitigen Einstiegs hinaufzieht. Gestern war es noch unberührt, doch heute sehen wir unsere Fußtapfen gleich einer Perlenkette sich darin emporreihen. Höher gleitet der Blick, die Kante hinauf, doch auch heute sieht man von diesem Platze aus nichts von ihren winterlichen Schwierigkeiten.
Und während ich mich bemühe, das stocksteif gefrorene Seil zu einem Oval zusammenzubiegen, löst sich der Druck der psychischen Anspannung der letzten Stunden, und die Gedanken werden frei für das Erlebnis der Erinnerung, wie es einen nach schwieriger Bergfahrt bisweilen überkommt.
Soll'n ma überhaupt einsteigen?" fragt der Freund. ?Die Kant'n schaut ja fast aus wia im Sommer!" Doch höhnisch reißt ihm der Sturm diese Worte von den Lippen und trägt sie an meinen Ohren vorbei heulend das tiefe Kar hinunter. Und ich antworte spöttisch: ?Des macht nix, wenigstens hamma a wengerl an Wind." Nach diesem kurzen, aber ?geistreichen" Dialog steigen wir ein.
Zunächst müssen wir ein Schneefeld empor, das abschreckend steil in die Schrofen des südseitigen Einstiegs hinaufzieht. Uns ist etwas unbehaglich zumute, als wir uns im lockeren Pulverschnee emporarbeiten. Doch dann erreichen wir die Schrofen, und hier herrscht fast kein Wind mehr, die Sonne scheint warm vom mittäglichen Himmel, und beinahe könnte man meinen, auf einer genußvollen Frühjahrskletterei zu sein. Nur die warme Kleidung und die schweren Rucksäcke stören diese Illusion beträchtlich. Wir kommen rasch voran und sind schon bald in der kleinen Scharte direkt an der Kante, wo im Sommer die Hauptschwierigkeiten beginnen.
Wütend überfällt uns hier wieder der Sturm. Zum ersten Male haben wir von hier aus Einblick in die nordseitigen Partien der Kante. Was wir sehen, trägt nicht gerade zu unserer Ermunterung bei: tiefster Winter, Eis und Pulverschnee und beißende Kälte. Doch vorerst ist uns das noch gleichgültig. Wir wählen eine südseitige Variante, die im Sommer zwar schwieriger ist als der Originalweg, dafür aber heute eine enorme Zeitersparnis bedeutet. Nur der Anfang, eine steile schneebedeckte Platte, hält uns etwas auf, dann kommen wir in dem folgenden langen, überhängenden Riß wieder flott voran. Für zwei Seillängen wird uns ein wundervolles Klettern geschenkt; der Fels ist sommerlich warm, es gibt schöne Tritte und feste Haken, und während ich so über die Überhänge höher und höher spreize und sich die Seile immer länger werdend zum Freund hinunterschwingen, da bin ich so richtig in meinem Element. Es gibt für mich in diesem Augenblick weder Vergangenheit noch Zukunft, es gibt nur noch die Gegenwart; und diese Gegenwart besteht aus einem senkrechten Stück Fels, und in diesem Stück Gegenwart aus Fels und Sonne, Wind und Wolken verkörpert sich für mich die ganze Welt. Mit dieser einfachen, unkomplizierten Welt fühle ich eine fast körperliche Verbundenheit.
Gleich darauf werde ich jäh aus meinem halben Trance-zustand in die rauhe Wirklichkeit zurückgerufen. Wir haben wieder die Kante erreicht, wo erneut der Höhensturm über uns herfällt, diesmal mit ungeahnter Heftigkeit. Wir müssen jetzt endgültig in die Nordflanke. Siegfried übernimmt die nächste Seillänge. Es sind glatte Platten, die nur wenige Griffe und abschüssige Tritte aufweisen. Sie sind über und über mit Schnee bedeckt, ihre Einbuchtungen mit Eis ausgefüllt. Es wird eine Kletterei an der Grenze des Möglichen. Haken einzuschlagen geht sehr schlecht, doch ohne zusätzliche Haken ist hier nichts zu machen. Bis Siegfried mitunter an den unmöglichsten Stellen einen angebracht hat, vergeht oft eine lange Zeit. Mittlerweile vergrabe ich mich unter meiner Anorakkapuze vor dem heulenden Sturm, lasse ergeben die Schneefontänen, die der Freund abläßt, über mich ergehen und friere wie ein Schneider. Doch endlich tönt in meinen Wachtraum der verwehte Ruf: ?Nachkommen!" Sofort bin ich wieder hellwach. Ich ziehe die Handschuhe aus, dann gehe ich nach, gehe so schnell, wie ich kann; denn wir wollen heute noch auf den Gipfel kommen, obwohl wir, in-folge unserer grenzenlosen Faulheit am Morgen, erst um 11 Uhr eingestiegen sind. Die Haken herauszuschlagen hält mich nicht lange auf, sie stecken ja alle nur wenige Zentimeter im Fels. Kurz danach bin ich beim Freund, gehe gleich weiter: einen vereisten steilen Riß empor, die Hände wühlen im Pulverschnee, suchen nach Hakenlöchern, drei Stifte fahren in den Fels, dann geht es über glatte Platten direkt an der Kante empor. Viele Haken stecken hier von den sommerlichen Begehungen her; da brauche ich keine neuen dazu-zuschlagen. Doch dann stehe ich am letzten Haken, stehe in einer Trittschlinge und kann dennoch bei dem tosenden Sturm kaum das Gleichgewicht halten. Doppelt problematisch werden deshalb die nächsten 10 Meter, ein schräg nach links ziehender Riß. Wieder wirft mich ein Windstoß fast aus dem Gleichgewicht. Ich werde erneut Haken schlagen müssen.
Wie lange aber wird das wieder dauern? Wir müssen doch heute noch auf den Gipfel kommen; 2 Uhr war es, als die großen Schwierigkeiten anfingen, und um 1/25 Uhr wird es schon dunkel. Wütend steige ich mit einer Ruckstemme aus der Trittschlinge, kämpfe mich gegen den Sturm im Riß empor, mit Kopf, Rumpf, Ellenbogen, Knien und Zähnen. Ich rutsche ab, kann mich abfangen, rutsche abermals ab, fange mich wieder und stehe endlich auf einem schmalen, schneebedeckten Band.
An den Füßen vorbei starre ich auf die flatternden Sicherungsseile, die der Sturm fast waagerecht in die Luft peitscht. Den Freund kann ich noch nicht sehen, die Kante entzieht ihn meinem Blick. Doch ich weiß, daß er jetzt da unten einen ebenso harten Kampf führt gegen das Toben des mörderischen Sturmes in eisstarrenden Rissen, mit kälteklammen Fingern im Wettlauf mit der unbarmherzigen Zeit. Weiter fällt mein Blick, bis er tief unten an den verschneiten Riesenblöcken im Kar haftenbleibt. Doch, was ist das? Ich kann ja keine Einzelheiten mehr erkennen! Wie hypnotisiert starre ich hinunter, und jäh durchzuckt mich die Erkenntnis: es dämmert. Wo haben wir nur die Zeit hingebracht? Fast drei Stunden haben wir für diese zwei Seillängen gebraucht! Da taucht der Freund um die Kante, schickt ein etwas verfrorenes Grinsen nach oben und schreit gegen den Sturm, ich soll das Seil gefälligst einziehen. Und da ist auf einmal alle meine Sorge um Sturm und Biwak wie weggeblasen. Alle Winde der Welt können uns nichts anhaben, und wenn wir nicht mehr auf den Gipfel kommen, dann biwakieren wir eben woanders. Obwohl wir nun wissen, daß wir den Gipfel heute nie mehr erreichen werden, klettern wir noch weiter. Klettern in immer stärker werdender Dunkelheit durch eiserfüllte Risse und über schneebedeckte Platten, über uns ständig das zermürbende Konzert des sich am Ringwulst brechenden Sturmes. Erst bei völliger Dunkelheit richten wir uns in der etwas flacheren Einbuchtung eines senkrechten Risses zum Biwak. Die längste Nacht des Jahres steht uns bevor. Wir können auf abschüssigen Tritten gerade nebeneinander stehen, mehr aber nicht. Wegen der Selbstsicherung können wir den Zeltsack nicht schließen. Da wir aufrecht stehen, ist er sowieso zu kurz. Der Sturm kommt von allen Seiten. Oft fährt er von unten in den Zeltsack und bläht ihn, daß wir Angst haben, er werde platzen. Unsere Sicherungshaken, die wir im Dunklen einschlagen mußten, getrauen wir uns anfangs nicht recht zu benutzen. Erst mit zunehmender Gleichgültigkeit setzen wir uns in Trittschlingen und machen es uns etwas bequem. Und noch später schaukeln wir hemmungslos herum, obwohl kein Haken tiefer im Fels sitzt als höchstens drei Zentimeter. So wird es für uns den Verhältnissen entsprechend trotz der großen Kälte noch eine ganz angenehme Beiwacht. Aller Biwakromantik zum Trotz sind wir am Morgen überglücklich, als wir, durch unseren Zeltsack merkwürdig verzerrt, hinter dem gewaltigen Massiv des Torsteins die Sonne emporsteigen sehen. Etwas später hängen wir dann am Ringwulst, dem letzten Bollwerk vor dem Gipfel. Mit unseren kältestarren Gliedern fällt er uns zwar recht schwer, aber dann haben wir es endgültig geschafft.
Doch mit dem Erreichen des Gipfels ist diese Bergfahrt für uns noch lange nicht abgeschlossen, denn es liegt ein sehr schwieriger Abstieg vor uns. Um die Mittagszeit tauchen wir an den Seilen hinab in die tiefverschneiten und eisbehangenen Flanken der Südostschlucht. Wir seilen uns über glitzernde Eiszapfenbalkone ab, stolpern an blankeisüberzogenen Kamin-wänden abwärts, zwängen uns unter Schneebedeckten Klemmblöcken durch, schlagen Abseilhaken, da die alten unter dem Schnee nicht mehr zu finden sind, und immer wieder ziehen wir unter Aufbietung aller Kräfte die anfangs nassen, später bocksteif gefrorenen Seile durch die Haken. Noch einmal will uns das Schicksal einen Streich spielen. Der Freund hat einen Abseilhaken geschlagen, und als er sich gerade daran in die Tiefe lassen will, probiere ich diesen Haken rein zufällig noch einmal aus, ob er hält. Ich ziehe mit einem kräftigen Ruck daran ? und habe ihn in der Hand! Freund Siegfried steigt wieder aus seinem Abseilsitz heraus und meint dann zu mir: ?Ja mei, wenn du a so oreißt, na hebt er freili net!"
Nun stehen wir wieder bei unseren zurückgelassenen Sachen am Fuße der Kante. Immer noch peitscht der Sturm die Schnee-fahnen durch das Kar. Und unsere Blicke gleiten empor zur Perlenkette unserer Spur im steilen Einstiegsschneefeld und weiter über die abenteuerlich steile Kante zur Spitze des Däumlings.
Dann nehmen wir Rucksäcke und Seile auf und stolpern auf unseren Schneetellern das Kar hinüber, dem Tal und Weihnachten entgegen.
Jörg Lehne
Quelle: DAV Mitteilungen 1958, Heft 3, Seite 42-44
Erste(r) Winter-Besteiger(in):
23.12.1957
Gipfel:
Däumling
Grafik:
Erste(r) Winter-Besteiger(in)
Lehne Jörg