Südwestwand - "Nördlicher Weg"
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Routen Details:
Ortler (3902m). Besteigung über die Hinteren Wandeln am 4. September 1895 durch Dr. Niepmann aus Düsseldorf und Dr. Lausberg mit den Führern Alois Pinggera und Josef Reinstadler aus Sulden unter Ausführung einer bedeutenden Variante der Anstiegsroute der Partie Tauscher-Artmann.
(Mitth. des D. u. Oe. A.-V., 1895, p. 275.)
Quelle: Österr. Alpenzeitung 1896, Seite 202
Ortler durch die Hinteren Wandeln. Am 4. September d. J. vollführten Dr. Lausberg und der Unterzeichnete mit den Suldener Führern Alois Pinggera und Jos. Reinstadler eine Besteigung des Ortlers durch die Hinteren Wandeln. Der bei dieser Tour eingeschlagene Weg ist nach Aussage der beiden Führer, derselben, die Herrn und Frau Dr. Tauscher bei der ersten Wiederholung der Route des Passeirer Josele begleiteten, deren Urtheil daher competent sein dürfte, in dem wichtigsten Theile der Partie ganz neu, was auch daraus hervorgeht, dass sowohl die Tauscher'sche wie die spätere Artmann'sche Partie Schneerinnen benützten, während unser Weg durch die Wandeln ausschliesslich Felskletterei bot. Die Tour dürfte daher für weitere Kreise von Interesse sein und eine etwas eingehendere Beschreibung rechtfertigen.
Am Morgen des 4. September, früh 2 Uhr. 50, verliessen wir die Berglhütte und betraten nach ungefähr einstündigem Marsche den unteren Ortlerferner. Die Passage über den Gletscher, dessen Zerklüftung immer unangenehmer zu werden scheint, verursachte trotz des hellen Mondlichtes einige Schwierigkeiten; doch vermochte Lois Pinggera's bekannter Scharfblick immer wieder den geeignetsten Weg ausfindig zu machen. Bei Tagesanbruch hatten wir den Gletscherabsturz hinter uns und befanden uns 5 Uhr 40 in Sicht des Ortlerpasses. Nach halbstündiger Rast erfolgte 6 Uhr 10 der Einstieg in die Felsen der Hinteren Wandeln. Unsere Einstiegsstelle befindet sich ziemlich weit unterhalb der seinerzeit von der Tauscher'schen und Artmann'schen Partie benützten, die den Gletscher weiter aufwärts verfolgten, und ist leicht kenntlich an einer mächtigen gelben Felswand, die vertical von schwarzen Streifen durchzogen ist. Unmittelbar links von dieser Wand kletterten wir anfangs in leichten Felsen, dann vermittelst eines kleinen, ziemlich schwierigen Kamins gerade aufwärts, wurden aber bald mehr nach links gedrängt zu einer grossen, wasserdurchrieselten Rinne. Der Aufstieg in dieser Rinne schien möglich, wurde aber von den Führern wegen Steingefahr — es gingen in der That einige Steine während unserer Anwesenheit los — für unprakticabel befunden, weshalb wir uns einem in schräger Richtung rechts aufwärts führenden Bande zuwandten. Die oberen Partien dieses Bandes waren ziemlich exponiert und erforderten wegen des lockeren Gesteins grosse Vorsicht. Unsere Hoffnung, von einem Felsvorsprunge, zu dem das Band führte, den directen Aufstieg bewerkstelligen zu können, erwies sich als trügerisch. Wir sahen uns gezwungen, wieder nach rechts zu traversieren, wobei wir nicht unbeträchtlich an Höhe verloren, bis wir zu einer grossen, die ganze Wand durchziehenden, schluchtartigen Rinne gelangten. Da weiteres Queren nach rechts unthunlich, so beruhte die einzige Möglichkeit, die Partie durchzuführen, auf der Erkletterung der sehr steilen Wand auf der (im Sinne des Anstieges) linken Seite der Schlucht, und Lois Pinggera entschloss sich ohne Zögern, dieselbe in Angriff zu nehmen. Die Kletterei gestaltete sich namentlich in den unteren Partien der Wand recht schwierig; das Gestein war zwar fest, aber vielfach plattig und gewährte meist nur kleine und unsichere Griffe und Tritte. Wir gewannen daher anfangs nur langsam an Höhe; weiter oben, wo verschiedene kleine Kamine den Aufstieg vermittelten, ging es besser. Zuletzt betraten wir die sich nach oben verengende Rinne selbst und verfolgten sie ohne weitere Schwierigkeit bis zu ihrem Ende, das wir um 10 U. 10 erreichten. Der schwierige Theil der Partie war hier zu Ende, und wir belohnten uns für die vierstündige, angestrengte Kletterei durch einen kräftigen Schluck. Ein kurzer Quergang nach links führte uns zu einem kleinen Schneefelde, dessen Rand wir aufwärts in gerader Richtung auf einen mächtig emporragenden Felsthurm los verfolgten. Wir umgingen denselben auf der linken Seite und setzten die Wanderung auf dem Felsgrate fort, der die obere Grenze der Wandeln bildet und sich mit dem Hochjochgrate vereinigt. Auf diesem Grate entdeckten wir Spuren der Anwesenheit von Menschen, eine Art Feuerherd, Asche und Reste von Brennholz. Unsere Führer erklärten sofort mit Bestimmtheit, dass diese Reste nur von einer der Besteigungen des Passeirer Josele herrühren könnten, da die beiden späteren Partien diese Stelle nicht betreten und auch kein Brennmaterial mitgeführt hätten. Derselben Ansicht waren auch sämmtliche älteren Suldener Führer, denen wir von dem Funde sprachen. Nach einer Rast von 11 Uhr 35 —12 Uhr 30 wurde das obere Ortlerplateau überschritten und der Gipfel um 1 Uhr 30 erreicht. Der Abstieg wurde auf dem gewöhnlichen Wege zur Payerhütte ausgeführt.
Der von uns eingeschlagene Weg ist zweifelsohne schwierig — beide Führer erklärten die Tour für die schwierigste, die sie im Ortlergebiete gemacht; dagegen ist er von objectiven Gefahren, wie Steinschlag und Gletscherbruch, die auf der Tauscher'schen Route zu befürchten sind, völlg frei und kann daher tüchtigen Kletterern empfohlen werden, zumal einige schwierige Stellen unseres Anstieges bei künftigen Wiederholungen wahrscheinlich vermieden werden können.
Dr. Niepmann, Düsseldorf.
Quelle: Mitteilungen. des D. u. Oe. A.-V., 1895, p. 275
Datum erste Besteigung:
04.09.1895
Gipfel:
Ortler
Erste(r) Besteiger(in):
Niepmann E.
Pinggera Alois
Reinstadler Josef