Nordwand
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Routen Details:
Neues vom Kaunergrat.
Von Karl Berger in Innsbruck. (Schluß.)
I. Ersteigung der Rofelewand von Nordosten.
(Am 4. September 1903.)
Mit der Ersteigung der Rofelewand von Nordosten, mit jener Tour, die uns, Franzelin, Hechenbleikner und mir, mehr als jede andere vorgeschwebt war, sollte es nun seine Wirklichkeit haben. Der Himmel war rein und wir schliefen in einem Hüttlein, das sich oberhalb der Arzleralpe an eine Felswand lehnte und fast ganz mit Heu gefüllt war. Der Mond warf neugierige Blitze durch alle Öffnungen und der Heuduft drang in die kalte Nacht. Um 3 U. 30 standen wir auf. Die Laterne wurde voran getragen. Unstet, wie ängstlich schwankte ihr Schein um die Nachsteigenden und über das Blockwerk. Ganz hinten im Kare stiegen wir zur Linken an einem steilen Moränenhange empor und kamen in eine Mulde, deren oberen Teil ein Ferner erfüllte. Bis nun war der hohe Fels wie ein tieferes Zurücksinken der Finsternis in sich selbst anzusehen gewesen, welche das Eis zu durchdringen suchte. Jetzt wurde es Tag; in seinem Grauen hoben sich weite Blockfelder, öde Eisrinnen und finstere Wände nüchtern ab. Uns kam es darauf an, jene Schneide zu erreichen, die vom Fuße der Wand gegen das Pitztal vorspringt. An feuchten, von Gras durchzogenen Platten fand sich eine luftige Gemsspur, die unsere Absicht zur Erfüllung brachte. Der Gschwandtferner ging uns zur Linken in hohler Wölbung in die Wand über, die von zwei übereinanderliegenden Randklüften umfriedet war. Ein Streifen aus rauhem Fels und Getrümmer stieg, dem Firne zur Seite, als Ausläufer des Grates in die Höhe und brachte uns leichten Kaufes bis zum Eispfeiler, der gute Aussicht bot, unseren Anstieg einzuleiten, weil sein oberes Ende mit dem Bande in Verbindung
stand, das die zu Anfang erwähnte hohe Plattenstufe durchschnitt. Nordwärts tauchten unsere Blicke tief und lotrecht in einen schattigen Winkel nieder, dessen eisiger Grund von Blöcken überstreut war. Auf dem Fels, der zuoberst aus dem Eise brach, ließen wir uns nieder, um Eisen und Seile anzulegen. Für hohe, schwierige Stellen Sorge tragend, verbanden wir uns in Abständen von je 30 m. Anfangs gab es harten Firn, doch bald sprödes, im Pulverschnee verborgenes Eis. Die Stücke, die Edl losschlug, schwirrten klirrend am jähen Hange
hinunter; sie trafen mich empfindlich und Hechus, der am tiefsten stand, nach 60 m hohem Falle so wuchtig, daß er in große Gefahr kam. Wollten wir 30 m nackten Eises wagrecht queren, so konnten wir da 5 » Band an seinem Ansätze erreichen, doch uns schien die braune Wand über uns mit ihrer plattigen Runse, der gerade Aufstieg, verlockender. Die Kluft zwischen Fels und Eis gab uns, nachdem wir sie erweitert hatten, gute Sicherung. Edl erhob sich am lotrechten Fels; der Eisen halber besaß seine Bewegung jene schwere und zugleich kraftvolle Sicherheit, die den Bauern eigen ist. Mit dem vollen Ablaufe des Seiles betrat er das Band. Auf den durchwegs abschüssigen Tritten waren die Eisen machtlos; wir waren auf Sprünge und Ritzen des Gesteins angewiesen. Hechus trat nun an die Spitze. Das Band führte, uns, teilweise durch Vorsprünge verborgen, stark nach abwärts geneigt, nach rechts zur Höhe. Es war mit Eis belegt und wo dieses von einer dünnen Firnschichte überzogen war oder gegen die Tiefe zu einen schmalen Felsrand freiließ, wurden uns Stufen
erspart. Unsere Lage war gefahrvoll, keine Bewegung durfte unbedacht sein, denn wir besaßen keine Versicherung. Der Überhang, der das Band beschirmte, senkte uns in Schatten; es war peinlich kalt. Ohne bedeutsamen Aufenthalt rückten wir an die Unterbrechung unseres gleichförmigen Weges heran. Wir sahen, daß die Mauer über uns sich verlor, daß wir uns nahe der Gipfelwand und auf dem höchsten Eisfelde befanden. Wagrecht hinüberzugelangen in die Fortsetzung des Bandes schien unmöglich; da lag eine Eis kehle, die so steil in die überhängende, einige hundert Meter hohe Nordwand abglitt, daß schon der Gedanke, sie zu betreten, grauenhaft war. Wir mußten gerade hinauf. Ich trieb den Pickel in die kleine Randkluft und gewann dabei die Überzeugung, daß er im Notfalle nicht halten würde. Wortlos klomm Hechus mir zur Rechten empor. Bald kamen ununterbrochen Eisstückchen und Schneestaub auf mich herab und enger drückte ich mich an den Überhang. Ich frug Hechus, ob er weiterkäme; „wenn das Eis hält, schon!" war die Antwort, die wie aus weiter Entfernung klang. Aus meiner sorgenvollen Lage erlöst, griff ich freudig die Felsen an. Was Hechus hier geleistet hatte, war bewunderungswürdig. In die Eisrinde, die am plattigen Fels niederhing, waren kleine Tritte gehauen wie an einem Steigbaume und alle Griffe
hatte sein Pickel entblößt. Man mußte sich mit seinem Gewichte förmlich hineinschleichen in diese Tritte, ihre Belastung ganz ruhig und gleichmäßig vollziehen. Hechus überließ mir ein handbreites Plätzchen und stieg weiter, einen besseren Stand zu suchen; nun begriff ich seine Mahnung: „ich dürfe nicht fallen", da ich das Seil in meiner Brusthöhe um einen ganz brüchigen Stein wand, um Edl zu versichern. Wohltuend nahm uns nun die Sonne auf. Mich traf es jetzt, unserer schon tags zuvor getroffenen Vereinbarung gemäß, die Führung zu
übernehmen. Es wäre jetzt möglich gewesen, in die Scharte zwischen den Gipfeln zu gelangen; doch konnten wir ohne volle Befriedigung den Anstieg nicht unvollendet lassen und wir waren nicht gewillt, ihn zu verkürzen. Nach rechts querend, überschritten wir Geschröfe und kleine Eisflächen, die, von sonnenweichem, haltlosem Schnee belegt, sehr gefährlich waren. Jenseits der lotrechten Bergkante, an der gerade vor uns ein Felszahn über der freien Tiefe stand, brach sich das Band, zur flachen Rinne verwandelt, durch die Gipfelwand Bahn. Über die Wand, die uns den Eintritt in die Rinne verhieß, hing, von Schatten behütet, ein gefrorener Wasserfall herab. Zwischen Felszahn und Bergwand lief das Seil hindurch; rücksichtslos schlug ich von dem blauen und grünen Vorhange die Eiszapfen weg. Im Eise vor¬
handene Löcher dienten, nach kurzer Bearbeitung, als Griffe; eng an die glasige Wand geschmiegt, hieb ich die Tritte aus. In der Rinne schlug ich die Stufenleiter schräg nach rechts hinan, bis ich einen Strich tiefen Neuschnees traf. Ich bohrte den Pickel ein und legte das Seil darum. Während die Freunde nachstiegen, flogen meine Blicke den jähen Hang hinab, der etwa «30 m unter mir in die Nord wand abbrach; — da drunten war's wie eine unendliche Leere. Wieder galt es einen Eisstreifen ansteigend zu queren, dann hielten wir uns an den
rechtsseitigen, plattigen Begrenzungsrand der Rinne. Hier war alles abschüssig; erst an ihrem Ausgange war zur Not Raum, den Nachfolger sitzend zu erwarten. Ein loses Vorwerk keilte sich in den höchsten Firnaufsatz empor. Rasch sank es uns zu Füßen und in hochwogender Freude erstiegen wir den steilen Firn, in dem jeder Hieb eine Stufe schuf.
Wir standen auf dem Gipfel und hatten den Sieg errungen und — konnten es kaum glauben. Wir sahen hinab, in die Tiefe, aus der wir heraufgekommen waren, wo kurze Eis- und Felsfluchten in die Luft ausgingen, wo das Bodenlose lag wie ein unaufhörliches Zurücksinken und Schwinden, und es ward uns, als stünde das eben Erlebte schon wieder in weiter Ferne; sonnig ruhten die Firne, schweigsam die Täler. Es war Mittag. Wir fuhren von der Scharte zwischen Nord- und Südgipfel nach Westen ab und umgingen, dem üblichen Anstiege folgend, die Rofelewand südlich und kamen über einen Fernersattel auf die Pitztalerseite. Bald ruhten wir an einer Quelle, die übermütig vom Felsen niedersprang ins langhaarige, weiche Alpengras. An dem sonnigen Berghang, der in herbstlicher Lohe stand, stiegen wir
dann ab. Oft warfen wir uns nieder in das Moosbeerengesträuch und hielten schmausend Rast.
Quelle : Mitteilungen des DÖAV 1905 Seite 185 und 186 (Auszug aus dem Bericht von Karl Berger)
Datum erste Besteigung:
04.09.1903
Gipfel:
Rofelewand
Erste(r) Besteiger(in):
Berger Karl (Innsbruck)
Franzelin Eduard
Hechenbleikner Ingenuin