Südwand - "Nieberlweg"
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Die Südwand des Mustersteins.
Von Franz Nieberl in Kufstein.
Der Dichter des „Inferno" war zwar mit einer regen Phantasie begabt und er hat eine hübsche Zahl ausgesuchter Qualen in seiner Höllenfahrt aufgezählt, aber eine Strafe für arge Sünder hat er vergessen: die Begehung des elenden Oberreintalsteigleins zum Schachen. Auf dieser „Steiganlage" wanden sich am 4. Juli v. J. morgens gegen 10 U. zwei Gestalten, schwer seufzend unter der Schnerfer Last, in glühendem Sonnenbrande die steilen Windungen aufwärts, bald durch Morast und Schlamm stapfend, bald über böses Geröll turnend, bald über Windbrüche und über halsbrecherische Leitern hinankletternd: Josef Klammer aus Kufstein und der Schreiber dieser Zeilen. Wie aber alles auf unserem Planeten zu Ende geht, so endete auch diese Mittagspromenade; überreiche Belohnung ward uns oben auf grüner Höh' zuteil, wo der kunst- und natursinnige Blick eines edlen Sprossen aus Witteisbachs Geschlecht die hervorragende Schönheit eines Erdenflecks glücklich herausgefunden und in echt königlicher Weise ein Werk hat erstehen lassen, wie nicht viele zu finden sind in
unseren Alpen: das Königshaus am Schachen. Weit und frei dehnt sich der Blick; die schärfsten Gegensätze finden sich hier vereint. Während ostwärts das Auge niedertaucht ins Beintal mit seinen frischen Wiesenflecken, seinem schwarzgrünen Tannicht, mit seinen smaragdenschimmernden Wasserbecken, mit seinem in weißem Hermelin leuchtenden Abschlüsse, dem Plattachferner nebst Schneefernerkopf, und darüber hinaus gegen Norden Bayerns saatengesegnete Gefilde verdämmern, stürzen im Osten und Südosten gewaltige Plattenschüsse in nächster Nähe schroff zu Tal, auf diese Weise ein Gesamtbild schaffend, in dem sich anmutige Idylle und wilde Romantik gatten.
Nach gebührender Würdigung dieser Schönheiten sorgten wir auch ausgiebig für des Leibes Atzung und es tat unserer bergfrohen Laune keinen Eintrag, als wir nachher auf dem Wege zur Meilerhütte „ausnahmsweise" von Jupiter pluvius mit einer kleinen Dusche beehrt wurden. In 1 1/4 St. kreischte unser Alpenvereinsschlüssel im Schlosse der genannten Hütte, sehr zum Erstaunen eines jungen Münchener Ehepaares, das sich wohl heute keinen Besuch mehr da heroben erwartet hatte. Die Gegensätze, welche hier aneinandergerieten,
waren beinahe gar zu groß: die Herrschaften in elegantem Dreß, wir zwei sonnverbrannte Indianer, an Hosen und Röcken deutliche, gerade nicht durch Meisterhand verdeckte Spuren ausgiebigsten Gebrauchs. Indes wir machten es uns in aller Gemütsruhe bequem; Klammer holte Wasser, ich richtete unsere Maggisuppen, Tee und Salami nebst etlichen Näschereien hier und dann wandelten wir in 10 Minuten hinan zur Vorderen Törlspitze. Die geringe Mühe wird reichlich vergolten: in fast greifbarer Nähe baut sich der Stock der Dreitorspitzen majestätisch in die Lüfte, während drüben überm Berglenplattach die charakteristische Schere des „Wettersteiner Tribulauns", der Öfelekopf, seine zerfressene Nordflanke aus Schutt und Schnee erhebt. Und da vorn im Osten, da ragt im Kamme ein schmales Felsenhaupt keck ins Blaue: „Dich wollen wir morgen noch näher kennen lernen; hoffentlich schüttelst du uns nicht trotzig ab, wenn wir versuchen, dich von deiner dräuendsten Seite zu überlisten! Bergheil! Auf Wiedersehen im Morgenlichte, Freund Musterstein!
Drunten entwickelte sich dann alsbald ein Hüttenleben mit all seinen intimen Freuden und Genüssen. Auf keiner noch so gut bewirtschafteten Hütte mundete mir das delikateste Essen so gut als da, wo ich selbst den Koch spielen muß, die einfache Erbswurst. Deshalb habe ich auch die Meilerhütte sofort in mein Herz geschlossen und ich freue mich schon jetzt auf den nächsten Besuch des reizenden Unterkunftshäuschens, das den echten Hochtouristen viel mehr anziehen wird als ein modernes Berghotel, dem bloß noch der schwarzbefrackte Kellner und der Portier mit vergoldetem Stockknauf abgeht, um sich dasselbe ebensogut in eine belebte Straße der Stadt als ein beliebiges „goldenes Lamm" oder einen „grauen Bären" hineindenken zu können wie auf einfache Bergpaßhöhe.
Um 10 U. krochen wir in die Federn, respektive Decken; um 5 U. morgens schlüpfte ich heraus und trat vor die Tür. Das Ergebnis dieses Ausflugs bestand darin, daß ich mich nochmals aufs Ohr legte, denn „grau und trüb lag über uns die Welt". Desto schneller waren wir aber um 7 U. auf den Beinen, als ich nach einem zweiten Ausgucke fast wolkenlosen Himmel melden konnte; wir schlürften den Kakao so heiß, daß wir uns Zunge und Gaumen verbrannten, und nach flüchtigem Abschiede von dem noch ruhenden Ehepaare sprangen wir ins Plattach hinab und liefen über Schnee und Schotter ostwärts gegen das Berglental.
Unsere Augen wurden immer größer; solche Wandabbrüche hatten wir denn doch nicht erwartet, wie sie uns die Südflanken der Törlspitzen zeigten; und als gar der Steilabsturz des Mustersteins selbst in unseren Gesichtskreis trat mit seinen silbergrauen, stark mit gelbroten Partien durchsetzten, vielfach lotrechten Mauern, da schlug uns das kletterfrohe Herz höher, denn da gab's sicher interessante Arbeit.
Wir zogen uns etwas zurück gegen den Öfelekopf, um ein Bild der Wand zu bekommen. Den Geröllkessel, Von dem die Ersteiger berichten, und die gelbgestreifte Wandpartie links unterhalb hatten wir bald entdeckt; bei näheremZusehen glaubte ich aber, mehr westlich dieser Anstiegslinie auch einen praktikablen „Weg" herausfinden zu können, und die Folge lehrte, daß ich mich nicht getäuscht hatte. Die allgemeine Richtung dieses Wegs wird durch eine dünne, scheinbar einen feinen Biß bildende Linie gegeben, welche, ungefähr in der Höhe des Geröllkessels beginnend, schief nach links aufwärts zieht und hoch oben, ansehnlich verdickt, auf dem Grate auszumünden scheint, westlich eines auffallenden, grellrot gefärbten, rechteckigen Wandabbruchs.*
Wir stiegen in eine von links nach rechts gegen die erwähnte gelbgestreifte Wandpartie führende Rinne ein, deren Jungfräulichkeit durch die geradezu beispiellose Brüchigkeit nahezu erwiesen war; ganze Steinsalven donnerten ins Kar hinab, zum nicht geringen Schrecken zweier Touristen im Tale, die diese Säuberungsbestrebungen jedenfalls mit gemischten Gefühlen verfolgten. Anstatt uns dann oben nach rechts gegen den Geröllkessel zu wenden, faßten wir einen links von uns in die Höhe ziehenden, sehr langen, senkrechten Riß ins Auge, der von unten dem Beschauer wohl verborgen bleibt, denn er ist nicht in der Wand selbst eingeschnitten, sondern wird gebildet durch eine vom Massiv abgespaltene Plattenkulisse. Der Einstieg war entschieden „haarig", wie Klammer sich ausdrückte, ebenso der unterste, überhängende, ockergelb gefärbte Teil; bald aber nimmt er Kamingestalt an und gestattet besseres Fortkommen. Er mündet auf ein Köpfel, schon über dem Kessel; mittels eines recht heiklen Quergangs nach rechts gelängt man von diesem luftigen Sockel nach rechts auf ein gutes Standplätzchen. Von hier aus erblicken wir hoch über uns, zu unserer Linken, einen auffallend schwarzen, schiefen Spalt, jenes verdickte Ende unserer gedachten Anstiegslinie. Wir gewannen den Kamin über eine ganze Anzahl zum Teile recht schwieriger Wandeln und Risse. Da daa Innere des Schlunds mit nadelscharfen Erosionszäckchen gespickt war, wir aber unsere durch das unverschämt rauhe Gestein ohnehin stark hergenommenen Röcke nicht als ausgesprochene Lumpen zu Tal tragen wollten, erklommen wir denselben an wenigen kleinen, aber ausgezeichnet festen Griffen über seine linksseitige Außenwand, turnten durch zwei unmittelbar sich anschließende, in gleicher Richtung ziehende Kamine empor und sahen uns nach deren Durchkletterung auf gutartigen Schrofen, die uns in einer Viertelstunde leicht nach rechts auf die Gratschneide leiteten, fast unmittelbar westlich des westlichen Steinmanns, und in wenigen Minuten gehörte der Hauptgipfel des Mustersteins uns. Wir hatten zur Durchkletterung der Wand, deren Höhe nicht viel über 400 m betragen dürfte, 2 St. 50 Min. benötigt, obwohl wir meist am Seile gingen. Wie mir scheint, haben wir eine etwas leichtere Anstiegslinie als die Erstersteiger eingehalten; alles in allem genommen, ist die Tour unbedingt den erstklassigen Felsklettereien zuzuzählen, und eine mit mehr Phantasie und Schilderungsgabe ausgestattete Natur als die meinige würde auch zweifellos die Schwierigkeiten in glühenderen Farben malen. Wir zwei waren hochbefriedigt und bereuten in keiner Weise, die berüchtigte Südwand des Mustersteins aufs Tourenprogramm gesetzt zu haben. Einen Vergleich mit der von uns zwei Tage vorher durchgeführten Durchkletterung der Nordwand des Hochwanners hält sie allerdings nicht aus, weniger in Bezug auf die Schwierigkeit der Kletterstellen, als in bezug auf Großzügigkeit und machtvolle Felsszenerie. Kaum hatten wir übrigens mit der verdienstlichen Tätigkeit begonnen, uns an unseren Mundvorräten nebst Gipfelpfeife gütlich zu tun, als schon wieder, wie bisher regelmäßig in diesem unberechenbaren Sommer, dünne Nebelfetzen ihre phantastischen Reigen um uns aufzuführen begannen. War das auf dem Grate auch nicht mehr bedenklich, so ist mir doch auf freier Höhe das wärmende Sonnenlicht lieber als solche lichtscheue Gesellen. Aber eine seltsam schöne Naturerscheinung brachten sie uns doch. Als wir nachher den Grat zur Meilerhütte dahinwandelten, erschien plötzlich zu unserer Rechten, im Norden, scheinbar wenige Meter unter der Gratkante, umflossen von einer wundervollen Aureole, ein Paar riesiger schattenhafter Bergsteiger: wir selbst in der schemenhaften Größenverzerrung des Brockengespenstes; ein wunderschönes Phänomen, das übrigens bei meinem Gefährten ein gelindes Gruseln hervorrief. Weiter unten auf dem Grate umflutete uns bald wieder gold'ner Sonnenglanz und in gehobenster Stimmung verbrachten wir auf der Meilerhütte noch ein paar recht gemütliche Stunden, die ich hauptsächlich mit Kochen, Essen und Rauchen, Klammer dagegen mit krampfhaften Versuchen in der edlen Flickschneiderkunst auszufüllen suchte; wer dabei mehr auf seine Rechnung kam, „davon schweigt des Sängers Höflichkeit". Bergheil!
* Die Linie ist selbstverständlich ideal, aber für das Auge sofort auffallend und dürfte auf einer gleichmäßigen Gesteinsschichtung beruhen, denn wir fanden nicht die Spur eines rißartigen Gebilds auf der ganzen Linie bis zu deren Verdickung, die sich als schwarzer Kamin entpuppte.
Quelle: Mitteilungen des DÖAV 1907, Seite 32-33
Musterstein, 2477 m. Vollständig neuer Anstieg durch die Südwand durch Josef Klammer und Franz Nieberl-Kufstein am 5. Juli 1906 (Mitteil, des D. u. Ö. A.-V. 1907, S. 32 und 33; Ö. A.-Z. 1907, S. 22).
Quelle: Mitteilungen des DÖAV 1907, Seite 281;
Datum erste Besteigung:
05.07.1906
Gipfel:
Musterstein
Erste(r) Besteiger(in):
Klammer Joseph
Nieberl Franz