Nordwand
(
Bearbeiten)
Routen Details:
Von Norden auf die Dreischusterspitze.
Von Ingenieur Otto Langl in Wien.
Der Pustertaler Frühschnellzug pfaucht seine pralle, sonnenglänzende Dampfsäule in den kalten Dolomitmorgen hinaus und ich stehe wie so oft am Coupefenster und halte Bergandacht. Unter mir eilt die junge Drau talaus, übermütig schäumend und gischtend an hemmenden Blöcken, in zornigen Strudeln sich am buchtenden Ufer vorbeidrehend, als könnte sie es nicht erwarten, ein ernstzunehmender, wirklicher Strom zu werden. Malerische Bauerngehöfte, sonntagfeiernde Mühlen mit blitzend ins Freie schießendem Kraftstrahl, bauschende Blauschürzen, kräftigfarbige Fürtücher und flatternde Schwarzbänder huschen auf blanker Straße vorbei und Sonntagsglocken hallen in kommendem und verwehendem Schall durchs Tal. Tiroler Wälder, üppig und kraftvoll, stehen am Hang bis hochhinan zur einsamen Wetterföhre in stillem Kare und schlanke Lärchen fangen den Sonnenglanz in ihre zarten Gehänge und durchleuchten der Tannen ernstes Grün. Immer näher drängen sich die Wälder an den rascher dahineilenden Zug, als wollten sie ihm das Eindringen ins Allerheiligste verwehren. Langsam fluten dann die grünen Wellen zurück — ein letztes Zögern waldiger Rücken noch — und wie aus der Erde gezaubert ragt der gewaltige Schuster über dem Tann. Auf diesen Augenblick hatte ich pochenden Herzens, mit dem brennenden Erwartungsgefühl eines ganz kleinen Jungen gewartet; und nun überwältigt mich angesichts dieses Bergkönigs solch heiße Lebenslust, Wagemut und fesselloser Schönheitskult, daß ich jauchzen möchte, hoch und durchdringend jauchzen,
daß der da drüben weiß, wie ich ihn bewundere. Die mitreisende Umgebung aber drückt meine Impulsivität auf ein Mindestmaß zusammen, so daß ein stummer Gruß die Begeisterung ersetzen muß. Immer wieder staune ich den kraftvollen, monumentalen Aufbau dieses Bergs an, dessen blanke Stirne so königlich gekrönt ist. Des Schusters Krone! — welcher Pleonasmus und doch welch tiefe Wahrheit in diesem Worte! Dem es vergönnt war, in flammendem Abendrot nach diesem riesenhaften Steindiadem zu greifen, der versteht das Bergsteigerwort vom «König Schuster».
Da kam auch für mich der Tag, der diesen Berg in meine alpine Interessensphäre zog. Kaum nahm ich mir Zeit zum üblichen Morgengruße, da ärgerte ich mich schon über des Schusters Gesellen, der mir breitspurig das Steinalpenkar verstellte. Dort sollte mein Einstieg in die noch jungfräuliche Nordwand des Schusters liegen.
Viel Sorge machte mir die jäh in den roten Mauern niederschießende Eisrinne, die, von hoher, firnglänzender Scharte gekrönt, die einzige Durchstiegsmöglichkeit zu sein schien. Ob dort die senkrechte Schlußwand ein Veto oder freie Bahn zum Gipfel bedeuten wird — wie oft hatte ich das erwogen, verworfen und wieder in Betracht gezogen. Schließlich kam ich zur Einsicht, daß nur eine gründliche Rekognoszierung an Ort und Stelle Klarheit schaffen könnte. An einem glühend heißen Julisonntag suchte und fand ich einen günstigen Zugang zu den einsamen Geröllfeldern des Steinalpenkars und konnte, unmittelbar am Fuße der Schusternordwand beobachtend, die Ersteigungsmöglichkeit dieser Wand im allgemeinen feststellen. Damit war viel gewonnen und ich durfte ernstlich an die Verwirklichung meines Lieblingsplans herantreten.
Die Lärchen im Innerfeldtale legten schon Herbstschmuck an, als ich mit Oberleutnant Löschner, meinem allgetreuen Dolomitenfreunde, im Zinnenseehotel zusammentraf. Tadelloses Wetter war die Hauptbedingung für unsere Tour; und gerade in diesem Punkte schien uns der Zufall zu narren. Ratlos standen wir beide frühmorgens am 6. September verflossenen Jahrs vor der Hütte. Der ganze Osten war mit schwerem, glimmendem Gewölk verhangen, das sich südwärts in feurige Garben auflöste. Hellgrün spannte sich der Westhimmel über die fahlen Dolomiten und leichter Südwind ließ die smaragdenen Spiegel der Bödenseen erzittern. Sollten wir bei so untrüglichen Zeichen schlechter Wetterlaune auf unserem Vorhaben bestehen? Lange schwankten unsere Meinungen, bis ein hochziehender Nord und eilig wandernde Zephirwölkchen den Ausschlag gaben. Gegen 5 Uhr 30 früh sprangen wir eilig über die weglosen Schutthänge des Innicherriedelkars zu Tal. In einer knappen Stunde hatten wir 800 m an Höhe verloren und strebten nun in unverminderter Eile auf dem flachen Innerfeldboden talaus. Bald brach zur Rechten die Innerfeldschütt des Schusters hervor und an ihrem unteren latschenbewachsenen Saume begann unsere eigentliche Tour.
Die nächsten drei Stunden unseres Vordringens möchte ich, der Einförmigkeit der Geschehnisse wegen, nur mit Schlagworten schildern: Harter Schutt, schluchtauf—schluchtab, grobe Blöcke, Zerben; Geröll, feiner Schutt, feinster Schutt, Hartschnee, Eis.
So hatten wir uns mühselig unter den gewaltigen Abstürzen des Schusternordgipfels zu einer breitaus ladenden Terrasse emporgearbeitet, die tief in den Bergkörper eingriff. Auf ihrem Rücken empfing uns die erste Steinsalve aus den Bollwerken zu unseren Häuptern. Blitzschnell quittierten wir den Morgengruß mit Deckungnehmen und warteten hinter Felstrümmern verborgen der kommenden Dinge.
Frei schauen wir hinaus gegen Norden. Aus tausend Zungen sich sammelnd, strömt das grüne Lärchenmeer im Innerfeld talaus, mengt sich mit dunklen Tannenfluten und umkost die sonnigen Untiefen zartgrüner Wiesen. Erst vor der Längsfurche des Drautals stauen sich die Wälder. Da liegt inmitten einer kunstvoll eingeteilten Landschaft von zahllosen Feldern, Wiesen, Äckern und Gehöften Innichen, — wie eine leuchtende Quarzdruse im farbenreichen Konglomerate. Waldige Rücken, von kahlen Almhöhen gefolgt, bilden, ruhige Wellenlinien ziehend, den Mittelgrund, auf dem die Kette der Eisberge in strahlender Reinheit thront. Haunold und "Schustergsell" säumen mit wuchtigen Graten den Ausblick und lachender Bläuhimmel mit plastischen Spindelwölkchen spannt sich hinüber von Fernen zu Fernen. Welcher Kontrast im Rückblick! Wild bäumt sich vom eisigen Sockel eine zernagte, zerschossene Mauer auf. Aus tausend Falten und Fältchen lugt der Verfall und sendet steinern Verderben zur Tiefe. Blank, rotleuchtend wölbt sich darüber die breite Stirn des Bergs empor und taucht mit schlanker Zackenkrone in den Äther.
Vieltöniges Singen und Surren erfüllt die Luft, krachendes Aufschlagen und gellendes Zersplittern klingt in der Runde; von den Wänden hallt's im hohlen Echo zurück. König Schuster spielt uns den Willkomm auf! Deckung für Deckung nehmend, schleichen wir uns an die Wand heran, hasten im glaseisigen Schlünde einer düsteren Rinne empor und atmen auf, als wir auf höherem Geröllboden stehen. Mächtig breit schießt vor uns die gewaltige Eisrinne der Nord wand zur fernen Scharte hinan, begleitet von klüftigen Graten und riesenhaften, rotbrüchigen Abstürzen. Auf diesen Graten klimmen wir weiter und halten ein, als die Felsen zu Häupten gelb und brüchig werden. Ein. hoher, singender Ton, der mächtig anschwillt, rauh und dröhnend endet, bringt raschen Entschluß zur Reife. Wir klettern ins Steilbett der Eisrinne hinein, streben eilig in ihm zum Grate zurück und erreichen in herrlicher Felsarbeit die hohe Kanzel der abschließenden Scharte. Hier lag die Entscheidung — durch oder zurück! Ein Blick die bangerwartete Schlußwand hinan und wir wissen, daß wir Sieger bleiben werden. Dann erst schauen wir ringsum. Aus ungeheurer Tiefe blicken die Hotels des Fischleinbodens empor und seine umrahmenden Dolomite scheinen demütig vor der Macht «unseres» Bergs gebeugt. Ungehindert fliegt der Blick über die Felsmassen des Schustergsells hinaus ins sonnige Vorland und glückliche Gedanken wandern frohbeschwingt vom fernen Glockner zum ferneren Ortler.
In der schluchtgeteilten Schlußwand finden wir Kletterarbeit von höchstem Genuß. Rascher, als wir gedacht, betreten wir jenes Geröllfeld, das den türmbewehrten Nordostgrat mit der Gipfelkrone verbindet, und verlassen damit jungfräulichen Felsboden. Vortreffliche Dienste leisteten uns jetzt die Aufzeichnungen Adolf Witzenmanns, der 1907 den Nordostgrat des Schusters erstmalig beging. Der Weiterweg führte uns in wildester Felsenszenerie in der Schlucht zwischen «Weißem und Rotem Turm» empor und gab uns in der abschließenden Scharte den Tiefblick ins Innerfeld frei. Zum ersten Male, seit wir das Tal verlassen, grüßt uns ein menschliches Lebenszeichen, an luftiger Kanzel flatternd, und winkt uns Willkomm vom Innerfeldsteige zu. Rasch ist der «Weiße Turm» gequert und der kühne Doppelgipfel liegt hart vor uns. Der letzte Ansturm auf das nahe Ziel beginnt — und gelingt! Aus Schatten haben wir uns emporgehoben zum Lichte und wandein langsam wie traumverloren dem nahen Steinmann zu. Die Sonne rüstet zum Scheiden und läßt sich müde tiefersinkend von gleißendem Gewölk umfangen. Ungebärdige Strahlenbündel brechen aus lodernden Rändern hervor und wecken in der Bergweit glühende Farben. In leuchtendes Orange getaucht ragen die Dolomiten aus dem violetten Meere der Taldämmerung empor, das stahlblau sich klärend den Eisbergen des Nordens entgegenbrandet. «Welsches Auflodern im Süden — germanische Ruhe im Norden» — wie wunderbar gleichartig formte sich Pfreimbtners Empfinden in mir! Je länger ich hinaus sah in die flammende Runde, um so deutlicher glaubte ich die Seele der Menschen in diesen Bergen zu erkennen. Abschiednehmend schienen sie dem König Schuster zu huldigen und seine einsamen Kronwächter zu grüßen.
Die steilsten Absätze des gewöhnlichen Schusteranstiegs waren kaum durchklettert, als die Dämmerung anbrach. Bald war ein genaues Einhalten der Route nicht mehr möglich und ein direktes Absteigen über die steilen Schrofen der unsicheren Beleuchtung wegen zu gefährlich. Da hielten wir Rast und warteten auf den Retter aus einer Beiwacht — den Mond. In der nachtdunklen Tiefe des Fischleinbodens glosten die Lichter des Hotels und die bleichen Schuttreißen der Weißlahn schimmerten wie Perlenströme im Schöße der Nacht. In jähen Konturen schlössen die einkreisenden Dolomite gegen den Himmel ab, der, mit langsam schwebenden Wolkenfahnen bezogen, an manchen Stellen funkelnde Sterne zeigte. Bedächtig zog sich der Mond aus den Hüllen und trat voll und leuchtend ins Sternenklare. Rasch kletterten wir weiter, noch mehrmals durch Mondverdunklung zur Untätigkeit gezwungen, und erreichten glücklich das Einstiegsschuttfeld, die Weißlahn, und 11 Uhr nachts — den Fischleinboden. Nach Mitternacht wanderte Freund Löschner weiter, den Sextener Baracken zu und ließ mich allein mit König Schuster in strahlender Mondnacht.
Quelle: Mitteilungen des DÖAV 1912, Seite 77-79
Datum erste Besteigung:
06.09.1911
Gipfel:
Dreischusterspitze (Punta dei Tre Scarperi)
Erste(r) Besteiger(in):
Langl Otto
Löschner Richard