Ostsporn

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Routen Details:
Richard Issler (in Wien). Erste Ersteigung des Grossen Geiger. (10600 Fuss = 3350 Meter Keil.)
Sonntag den 20. August marschirte ich mit Michel Groder von Kals wenige Minuten nach 6 früh durch das Virgenthal aufwärts nach Prägraten. Hier bei Isaias Steiner verproviantirten wir uns und stiegen Nachmittags zur Johann'shütte empor. Gegen 6 Uhr Nachmittags langten wir in der Johann'shütte an und trafen hier einen Soldaten, welcher mit Holzspalten beschäftigt war und vergeblich seines Herren, eines Officiers der Mappirungs-Commission harrte. Raum war somit genug vorhanden und für eine prächtige Lagerstatt ist, seitdem diese Unterkunftshütte in den Besitz des Deutschen Alpenvereins übergegangen, auch gesorgt. Besonders dankend gedenke ich zweier schwerer wollener Decken , welche als Eigenthum der Hütte uns zu Gute kamen; ich kann hier nur den Wunsch aussprechen, unser Alpenverein möge für noch einige solche Exemplare sorgen, da die Johann'shütte auch in neuerer Zeit stark frequentirt wird (es waren gleich Tages darauf nicht weniger als fünf Touristen in derselben zu Gaste). Im Uebrigen ist die Johann'shütte viel comfortabler eingerichtet als beispielsweise die Rainerhütte, in welcher wenige Tage vorher jegliche Einrichtung fehlte.
Es war 1 Uhr vorüber, als mich Michel weckte, 1 1/4 Stunde später waren wir marschbereit. Die Nacht war stockfinster, Michel noch nie hiergewesen, auch durfte der schwache Lichtschein der Laterne nicht hoch angeschlagen werden und so war es denn eine peinliche Wanderung, bald den rauschenden Gletscherbach zur Seite, dann wieder über ungleiche grosse Steintrümmer und dennoch traf der wackere Michel ganz genau die für den Anstieg geeignetste Stelle am Dorfergletscher; er hatte zu diesem Zwecke Abends vorher eine der Anhöhen ganz in der Nähe der Hütte erstiegen und, wie sich heute zeigte, sich gut informirt. Je weiter wir kamen, desto mehr gewöhnte sich übrigens das Auge an die Dunkelheit, auch durfte bald auf die Morgendämmerung gerechnet werden und als die halbe Höhe des Gletschers erreicht war, stellte sich das dem Erscheinen des Tagesgestirnes vorangehende charakteristische Grau ein. Jetzt wurde die Wanderung interessanter, beständig wurde die prächtige Glockenform des Geiger betrachtet, und, da die schneidige Kälte antrieb, schon um 4 Uhr 45 Min. das Obersulzbachthörl erreicht. Wenige Secunden vorher hatte sich die ganze herrliche Scenerie verändert, alle höheren Spitzen weit und breit glühten im intensivsten Morgenroth. Die Wanderung bis zum Thörl auszudehnen war in jeder Beziehung gerathen, da erstens von hier am besten zu übersehen, welcher Anstieg zu wählen sei und zweitens wohl jeder Andere in diesem Falle einen so wichtigen Uebergangspunkt ebenfalls aufgesucht hätte. Der Plan war schnell entworfen, Michel und ich stimmte für ein Zurückgehen, um so dem heutigen Ziele ganz direct beizukommen. Die steilste Stelle, welche der Geiger bietet, wurde von uns als Anstieg gewählt; es ist dieses ungefähr 20 Minuten unterhalb des Obersulzbachthörls. Ein ununterbrochener Firnhang zieht hier vom Dorfergletscher bis etwa 9000 Fuss Höhe hinan, wo derselbe dann durch einen von NW. nach SO. streichenden Felskamm durchsetzt wird ; diesen Kamm zu gewinnen war vorerst unsere Aufgabe. Die Steilheit des Gletschers, welcher wohl stark überfirnt war, mahnte zu grösster Vorsicht, an welche zu erinnern, Michel nicht Müde ward. Zuerst versuchten wir ohne Eisen zu steigen, was jedoch nicht lange währte; der Firnschnee war zu hart und Stufenhauen hätte zu viel Zeit in Anspruch genommen, es wurden also die Eisen angeschnallt, doch bald stellte sich heraus, dass nur eines von den meinen brauchbar war, das des rechten Fusses war zu weit und sass also nicht fest. Ich schnallte dieses ab und stieg nun mit nur einem Eisen bewaffnet aufwärts. 6 Uhr 10 Min. wurde das Felsband erreicht und war ich jetzt, wenn nicht unvorherzusehende Schwierigkeiten, als nicht übersteigbare Eiskiüfte u. s. w. kommen würden, meiner Sache gewiss. Das Aufwärtsklimmen am Grate erfordert wohl auch: grosse Vorsicht, da selbst die bedeutendsten der aufliegenden Plattensteine sehr locker aufliegen. Wir kamen sehr schnell aufwärts, so dass kurz vor 7 Uhr die zum Gipfel emporführende Eisschneide erreicht war. Hier hieb Groder mit dem Eispickel flüchtig die scharfe Kante weg, welch' letzteres wenig Zeit in Anspruch nahm. 7 Uhr 8 Min. hatten wir die höchste Spitze erreicht; meine Freude war gross , Michel war in Wonne aufgelöst. Er nahm den Hut ab, wahrscheinlich um ein Gebet zu verrichten und rief dann zu wiederholten Malen „ach ist es da schön" und wahrlich es war hier droben unvergleichlich schön ; ein wunderbarer Morgen und damit verbunden eine Aussicht, wie solche reiner und nach drei Seiten unbegrenzter nicht zu wünschen war.
Von der näheren Umgebung war es immer wieder das gegen SSW. ziehende Maurerkees, welches meine ganze Aufmerksamkeit fesselte, dazu die drei Maurerkeesköpfe , dann die Simony- und Goubachspitze , darüber hinaus die Spitzen der Rieserferner und in weiter Ferne südwestlieh und südlich all die pittoresken Formen der Dolomiten, unter welchen besonders die stark beeiste Marmolada hervortrat; gegen Osten ist es wieder vornehmlich die Glocknergruppe, welche besonders ins Auge springt; von derselben etwas südlich die Schobergruppe. Die Aussicht theils nach Nordosten als auch nach Norden wird durch den Grossvenediger gedeckt, während nordwestlich wieder die herrlichen Zillerthaler Eiszinnen, Reichenspitze, Löffler, Hochfeiler u. s. w.', darüber hinaus schliessen Stubaier und Oetzthaler Gipfel die Aussicht. Das Thermometer zeigte -7° R. bei eisiger Nordostströmung, später -4°.
Jetzt ging es an das Aufrichten der Steinpyramide, welche, da auf dem, wenn auch schmalen Grate doch grosse Plattensteine auflagen, schnell zu Staude kam ; in einer halben Stunde war selbe vollendet und mit den Daten der Besteigung versehen. Um 9 Uhr verliessen wir die stolze Zinne und zwar auf demselben Wege, welcher sich von oben als der einzig richtige zeigte. Der Firn, welcher Morgens von uns weicher gewünscht wurde, war dies jetzt mehr denn zu viel, so dass Groder am steilen Firnhange das Abgehen einer Lawine hinter uns befürchtete. Dieser Gefahr jedoch entgingen wir, obwohl von anderen Seiten her das Gepolter fallender Eisstücke hörbar wurde. Um 11 Uhr trafen wir mit einigen vom Venediger zurückkehrenden Herren am Dorfergletscher zusammen und nun ging es sieben Köpfe stark abwärts. 12 Uhr 30 Min. Wiederankunft in der Johann'shütte. Die Besteigung hatte im Ganzen 10 1/4 Stunden gekostet.
Ich trennte mich eine Stunde später von den übrigen Herren, um noch an demselben Tage mit Groder den weiteren Weg bis Windisch Matrei zurückzulegen. Abends 9 Uhr langten wir beide in letzterem Orte an, waren somit 18 3 /4 Stunden ununterbrochen auf den Beinen
gewesen. Indem ich schliesse, füge ich als Gerechtigkeitsact einige Worte, Michel Groder betreffend bei; derselbe hat sich auf dieser Tour, auf einem ihm vollständig fremden Eisgebiete als das vollendetste Muster eines Hochgebirgsführers bewiesen, rechnet man hiezu noch sein gefälliges Wesen und seine Namenskenntniss , so wird wohl Jeder begreifen, dass der Bergsteiger, welcher Michel einmal als Führer hatte, denselben immer wieder aufsuchen wird.
Quelle: Zeitschrift des DÖAV 1873, Seite 141
Datum erste Besteigung:
21.08.1871
Gipfel:
Geiger Großer
Erste(r) Besteiger(in):
Groder Michel (Führer)
Issler Richard