Westflanke aus dem Alperschon

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Routen Details:
Die Freispitze. 2882 m N. M.-M.
Von Dr. Ant. Sattler in Wien.

Am 18. August 1878 war ich durch das Hühenbachthal von der Mädelegabel kommend Nachmittags in Holzgau im Lechthal angelangt in der Absicht, am folgenden Tage die Parseyerspitze zu besuchen und, nach Grins absteigend, noch Landeck zu erreichen. Da ich aber in Folge eines Missverständnisses erst spät Abends mit dem Führer Anselm Klotz aus Unterstockach zusammentraf, so war es nicht mehr thunlich , noch die 3 Stunden entfernte Seeleinalpe im Parseyerthal zu erreichen. Ich ging daher gerne auf den Vorschlag meines Führers Klotz ein, statt der Parseyerspitze die von Touristen noch nie besuchte und nur einmal von Klotz erklommene Freispitze zu besteigen , da ich hoffen konnte , doch noch mein morgiges Ziel , Landeck , erreichen zu können und die Lage dieser Spitze, so wie deren Höhe — sie ist die dritthöchste der Lechthaler Alpen: Parseyerspitze 3021, Wetterspitze 2898 — einen guten Ueberblick auf die gesammten Lechthaler Alpen und voraussichtlich auch eine bedeutende Fernsicht erwarten Hess.
Ich wanderte daher noch nach Lend 1055 m, 1 Stunde von Holzgau im Lechthal abwärts an der Mündung des Lendthals gelegen und fand im Gasthaus zur Traube eine in jeder Pachtung zufrieden stellende Unterkunft. Am 19. August früh 1 U. 45 waren wir von Lend aufgebrochen und erreichten nach 1 1/2 stündigem raschem Gehen durch das Lendthal die Mündung des Alperschonerthals, dessen Bach in prächtigem Wasserfall aus enger Schlucht hervorbricht.
Wir liessen bei dem gleich der Mahdau einst bewohnt gewesenen Eckhofe den in\s Parseyer- und Reththal führenden Weg links liegen und bogen fast rechtwinklig längs den Abhängen des Dolnerbergs in das Alperschonerthal ein. Als der Tag graute, erreichten wir auf meist dunklem Waldpfad nach 1 Stunde die sauber gehaltene Hütte der unteren Alperschoner Alpe. Hier zeigt sich über einem waldigen Rücken der Felskamm der Freispitze. Der Weg, welcher nun auf das rechte Bachufer übertritt, führt bald über sumpfigen und steinigen Grasboden, bald über Geröll, welches die ganze Thalsohle bedeckt, oft nur sehr schwer kenntlich in 1 Stunde zur hinteren Alperschoner Alpe 1616 m. Hier verliessen wir den neben dem Bach fortlaufenden Alpenpfad und schritten am rechtseitigen Thalgehänge etwa 1/2 Stunde allmälig aufwärts, bis wir bei einem kurzen jedoch sehr steil gegen 0sten emporziehenden Thälchen anlangten. Hier war der Aufstieg zur Freispitze erreicht. Es war unterdessen 5 U. 30 geworden. Wir liessen das entbehrliche Gepäck zurück und begannen den Aufstieg über die zur linken bis zu den das Thälchen oben begrenzenden Wänden in einer durchschnittlichen Neigung von 50° emporziehenden Grasböden, auf welchen zahlreiches Edelweiss blühte. Wir umgingen jene Wände links und befanden uns nun auf einer kleinen Terrasse, von welcher sich in gleich starker Neigung , wie die eben überwundene Strecke , ein schmaler Rücken gegen 0sten emporzog, spärlich mit Gras bedeckt, welches bald scharfkantigem Geröll Platz machte. Links stürzte dieser Rücken in senkrechten Wänden in ein mit Schutt und Schnee erfülltes Hochthal ab , welches von dem von der Hinteren zur Vorderen Freispitze ziehenden Felskamm begrenzt war. Zur rechten zog sich ein wildes Geröllfeld in bedeutender Neigung gegen das Alperschoner Thal hinab , über welchem die othbraunen Wände der Rothen Platte 2822 m emporstiegen. Vor uns thürmte sich das Felsgerüst der Freispitze auf, zunächst einen in zwei Hörner auslaufenden Vorgipfel uns zuwendend, über dem der helmartige höchste Gipfel herüberblickte. Nach kurzer Umschau wurden die einzelnen Kuppen des vorerwähnten Rückens erstiegen, dann bogen wir rechts ab und steuerten der zwischen den beiden Hörnern des Vorgipfels liegenden Scharte zu. Da die Neigung zunahm und das lose und scharfschneidige schiefrige Gestein keinen sicheren Tritt gestattete, wurden die Steigeisen angelegt, und vorsichtig über die morsche brüchige Felswand zur Scharte emporgestiegen. Nun lag ein nach NW abdachendes Schuttfeld von massiger Neigung vor uns, links von einem zerrissenen Felskamm eingefasst, über welchem sich die grauen glatten Wände der Freispitze erhoben. Rechts senkte sich der Kamm zu einer zwischen Freispitze und Rothen Platte tief eingeschnittenen Scharte, über welche ohne grosse Schwierigkeit ein Abstieg in das Parseyerthal unternommen werden kann. Wir überquerten das Schuttfeld in der Richtung gegen den Gipfel, überschritten jenen gezackten Felskamm und stiegen in eine steil nach 0sten emporziehende und nach unten in eine Wand auslaufende Rinne hinab, aus welcher sich senkrecht die Dolomit-Wände des höchsten Gipfels erhoben und eigenthümlich durch ihre mehr blaugraue Färbung von dem gelblichbraunen Schutt der Rinne abhoben. Wir kletterten in dieser Rinne an ihr oberstes Ende hinauf und erreichten von hier über gewaltige Blöcke ansteigend ohne weitere Beschwerde um 8 U. 30 die Spitze. Die Besteigung der Freispitze ist zwar schwierig, aber höchst lohnend und bei gehöriger Vorsicht keineswegs mit Gefahr verbunden ; sie emfiehlt sich insbesondere gegenüber der Parseyerspitze durch ihre kürzere Dauer. Als Ausgangspunkt für alle Touren in diesem Gebiet eignet sich Lend am besten. Wer diese Gruppe genau kennen lernen will , mag die Besteigung der Wetterspitze mit dem Aufstieg durch's Sulzthal und dem Abstieg ins Alperschoner Thal, der Freispitze mit dem Abstieg nach der oberen Alpe im Parseyerthal und der Parseyerspitze mit dem Abstieg nach Grins oder in's Pateriolthal in 3 Tagen aneinander reihen.
Bezüglich des Führers Anselm Klotz, den ich als aufgeweckten , gefalligen und höchst aufmerksamen Begleiter schätzen lernte, kann ich mich unbedingt dem von Herrn G. Hofmann in der Zeitschrift 1877, S. 114 ausgesprochenen Lob anschliessen.

Quelle: Zeitschrift des DÖAV 1879, Seite 251

Datum erste Besteigung:
1878
Gipfel:
Freispitze Hauptgipfel
Erste(r) Besteiger(in):
Klotz Anselm
Sattler Anton Dr.