Verzi Campanile
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Höhe:
2.680 m
Infos:
Campanile Verzi, circa 2680 m
Südöstlich der Cima Eötvös erhebt sich auf dreieckiger Basis ein kühner Felszacken. Die erdrückende Nähe der höchsten Spitzen läßt ihn nicht recht zur Geltung kommen, in jedem anderen Teil der Gruppe jedoch würde dieser Gipfel durch seine Höhe und kühne Gestalt eine achtunggebietende Stellung einnehmen. Sowohl vom Schneekar als auch vom Marajakar zieht eine Rinne empor zu einer Scharte, welche die Verbindung mit der Cima Eötvös herstellt. Für diese Scharte, die mit der nahen Forcella di Nevaio ungefähr in gleicher Höhe liegt, habe ich den Namen Forcella Verzi angewandt. Am 19. September 1901 verließ ich mit dem Führer Agostino Verzi vulgo Scèco um 6 Uhr 50 Min. in der Früh das Grand Hotel am Misurinasee. Wir hatten in den vorhergehenden Tagen fast alle Kare der Gruppe durchwandert und die wichtigsten Scharten überschritten und dabei die photographischen Aufnahmen gesammelt, welche die Bilder zu dieser Abhandlung liefern sollten. Heute durfte die große Kamera zu Hause bleiben und der wohlverdienten Ruhe pflegen, hatte sie doch schon weit mehr Bilder in sich aufgenommen, als in diesem Buche zur Wiedergabe gelangen konnten. Nur eine kleine Handkamera — und neben ihr für alle Fälle ein Seil — wurden im Rucksack verborgen. Unsere Pläne für heute waren sehr bescheidene; wir wollten nur das Gletscherkar, das einzige mir noch nicht bekannte, durchwandern und von ihm aus den Übergang über die Forcella di Nevaio ins Schneekar ausführen. Zu weiterem reichte die Zeit nicht, denn Scèco, der heute abend noch ein neues Engagement antreten mußte, wollte um 4 Uhr wieder in Cortina sein.
Kurz nach 8 Uhr standen wir auf dem Passo di Tocci. Noch vergoldeten die Strahlen der Morgensonne das herrliche Bergbild, in dessen Mittelpunkt die Drei Zinnen aufragen, aber schon senkten sich die alltäglichen Nebel, die mir in den Tagen vorher soviel Kummer bereitet, auf unsere Gruppe hernieder, und bald war diese so gründlich eingehüllt, daß wir bei unserer Wanderung über den »Nevaio« meist nur den Firn unter unseren Füßen sehen konnten. Besonders hartnäckig verbarg sich das stolze Dreigestirn der Hohen Cadini hinter dem grauen Schleier, während zu unserer Rechten eine Spitze dann und wann aus der grauen Hülle hervortrat, die wir für die Nordwestliche Cadinspitze ansahen. In einem dieser lichten Augenblicke machte ich auch meinen Führer auf die Spitze aufmerksam. "Oh, die ist leicht! In einer halben Stunde kann man von hier oben sein."Mein Vorschlag, dies einmal zu probieren, erweckte bei ihm große Freude. In wenigen Augenblicken war unser Gepäck — einige Meter über dem Gletscherrand — unter vorspringenden Felsen geborgen, und, nachdem wir uns durch das Seil verbunden, begannen wir sechs Minuten vor 9 Uhr den Aufstieg. Auf diese Tour komme ich an anderer Stelle nochmals zurück, nur das will ich hier noch erwähnen, daß wir zum Aufstieg nicht einmal die von Scèco eingeschätzte halbe Stunde brauchten, sondern schon nach 20 Minuten auf der Spitze des Zackens standen. Trotz eines längeren Aufenthaltes dort oben betraten wir genau eine Stunde, nachdem wir es verlassen, wieder das Eis des Gletschers. Die Kletterlust war erwacht. »Jetzt probieren wir eine von den kleinen«, meinte Scèco, während mir die Cima Eötvös mehr im Sinne lag. Der »Kleinen« waren drei: zwei standen in der Forcella di Nevaio, sie konnten mir aber wenig imponieren, weil es keine Berge, sondern nur Felszacken waren, die dritte Spitze schaute, zwischen beiden durch, aus etwas größerer Entfernung zu uns herüber. Um 10 Uhr standen wir auf der Forcella di Nevaio. Hier zeigte sich unsere Spitze als selbständiger Berg von herausfordernd kühner Gestalt. Wir erkannten, daß es der Gipfel des mächtigen Felsgebildes war, das drüben in gewaltigen Wänden zur Forcella della Neve abstürzt. Nun imponierte auch mir dieser Turm, und ich ließ mich von Scèco leicht überreden, seine Besteigung zu versuchen. Die noch immer verhüllte Cima Eötvös war vergessen. Ein etwa 40 Grad geneigter Hang leitete hinüber zu dem kleinen Verbindungsgrat zwischen unserem Turm und der Cima Eötvös — der Forcella Verzi. Wir gingen hinüber und konnten unseren Berg nunmehr einer genaueren Untersuchung unterwerfen. Durch die unteren, glatten und fast überall überhängenden Felspartien zog ein enger, langer Kamin. Konnte er erreicht und durchklettert werden, so war die Spitze gewonnen, denn die oberen Felsen konnten, wie wir sahen, der Ersteigung keinen ernstlichen Widerstand mehr leisten. Wenig unter unserem Standpunkt zog ein Spalt, gebildet durch eine von der Wand abstehende Platte hinüber. Durch ihn und über die Kante der Platte gingen wir hinüber, bis diese überhängend abbrach. Vor uns lag eine glatte Wand, deren Forcierung selbst in Kletterschuhen, die uns heute fehlten, ein höchst gefährliches, kaum durchführbares Unternehmen gewesen wäre. Es half also nichts, wir mußten zurück und in der Rinne gegen das Maraja-Kar absteigen. Mehr als eine Viertelstunde Zeitverlust hatte uns der vergebliche Versuch verursacht, und so war es 10 Uhr 40 Min. geworden, als wir eine zum Einstieg geeignete Stelle fanden. Wir verbanden uns durch mein etwas kurzes Seil, wobei Scèco, in dem Bestreben, keinen Centimeter davon zu verlieren, mir eine die Brust beklemmende Schlinge umlegte. Unsere Einstiegsroute zog sich von links unten nach rechts oben, dem unteren Ende des Kamins zu, welches wir bald erreicht hatten. Wir stiegen hinein in den engen Spalt und erst ohne große Schwierigkeiten auf seinem Grunde empor, bis zu dem oberen Teile, der durch Stemmen zwischen den engen Wänden überwunden werden mußte. Wird der Spalt weit genug sein, uns durchzulassen? — Seine stark überhängende Außenkante kann für uns wegen des bitter empfundenen Fehlens der Kletterschuhe nicht in Betracht kommen, wir müssen innen bleiben. Langsam drückt sich Scèco unter großer Anstrengung empor. Oben scheinen die Wände zusammenzuwachsen. Nach dem Ruf: "Es geht gerade noch!" entschwindet Scèco meinen Blicken und lädt mich bald darauf zu folgen ein. Ja, es ging gerade noch, aber kaum. Ich zähle gewiß zu den Schlanksten unter den Anhängern des Klettersports und trotzdem blieb ich an einer Stelle, wo man den Körper unter mancherlei Windungen zwischen eingeklemmten Blöcken durchschieben muß, so vollkommen stecken, daß ich weder vor- noch rückwärts konnte. Jede Nachhilfe von oben war ausgeschlossen, da mir das enggeschnürte Seil beim leisesten Zug den ohnehin durch die drangvoll fürchterliche Enge behinderten Atem raubte. Etwa eine Viertelstunde mühte ich mich verzweifelt ab, weiterzukommen, bis ich endlich die richtige Körperhaltung gefunden hatte. — Als ich bei Scèco stand, war es 1/212 Uhr geworden. Erst nachdem ich die atemraubende Seilschlinge gelockert hatte, konnte ich mir die Situation betrachten. Diese war nunmehr vollkommen verändert; statt der glatten und überhängenden Wände sahen wir gut gangbares Felsterrain über uns. Zwei übereinanderliegende, durch eine kurze, vertikale Anstiegsroute verbundene Traversen führten von links nach rechts zum Fuß des Gipfelblockes. Nach wenigen Schritten nach links hatten wir den Beginn der unteren Traverse erreicht und kurz vor 12 Uhr standen wir unter dem Kamin, der zwischen den beiden Zacken des Gipfelblockes hinaufführt. Hier trafen wir wieder auf etwas größere Schwierigkeiten und beim Ausstieg auf den Gipfelzacken auf sehr unzuverlässiges Gestein.
12 Uhr 5 Min. schüttelten wir uns oben die Hände. Ueber den Einschnitt der Forcella della Neve herüber schaute der nur wenig höhere Campanile Antonio-Giovanni auf uns herab; warum sollte nicht auch unser Turm den Namen seines Bezwingers tragen? Ich reichte Scèco meine Visitenkarte, auf der ich die Taufe unseres Turmes als "Campanile Agostino Verzi" verzeichnet hatte, hin und merkte an seinem dankbar aufleuchtenden Blick, daß ich ihm eine Freude gemacht habe.
Der Abstieg ging glatt und rasch von statten. Durch den Kamin ließen wir uns einfach hinabgleiten und überwanden damit diese Stelle, die uns im Aufstieg nahezu drei Viertelstunden gekostet hatte, in wenigen Minuten. Um 1 Uhr 5 Min. standen wir wieder in der Rinne unten, durch die wir nach kurzer Rast ins Maraja-Kar abstiegen, um von dort in einer Stunde über die Forcella della Neve nach Misurina zurückzukehren.
Quelle: Auszug aus dem Artikel "Die Gruppe der Cadinspitzen in den Sextener Dolomiten" von Adolf Witzenmann in der Zeitschrift des DÖAV 1902, Seite 402-404
Bild:
Gebirgsgruppe:
Dolomiten - Sextener Dolomiten
Erste(r) Besteiger(in):
Verzi Agostino
Witzenmann Adolf
Datum erste Besteigung:
19.09.1901
Routen:
Guglia degli Svizzeri - Südwand (südlich angelehnt)
Nordwestriß
Südkamin
von Osten
von Süden
(
Route Neu)