Mühlmann Josef
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Biografie:
Josef Mühlmann
*15. Mai 1891 — (+) 29. Oktober 1965
Man sollte sich immer Zeit lassen, bevor man einen Nachruf schreibt. Die Trauer soll nicht ein Zerrbild eines vom Leben abgetretenen Kameraden geben. Man soll aber auch nicht so lange warten, bis die Erinnerung sich in sentimentalen Nebel auflöst. Man muß noch fähig sein, das Bildnis eines Mannes in seiner Schaffenskraft zu zeichnen, man muß noch sein Werk erkennen, das im Dienste von Kameradschaft und Verein stand, man muß persönliche Sentiments und Ressentiments ausschalten können, die sich als Vorhang vor Mensch und Tat legen wollen. Ich meine in diesem Fall: Bild, Mensch und Tat Josef Mühlmanns.
Josef Mühlmann ... Seinen Namen lernte ich schon als Knabe kennen. Als Vierzehn- oder Fünfzehnjähriger. Damals, als der „Führer durch das Dachsteingebirge und die angrenzenden Gebiete" von Alfred Radio Radiis der erste Begleiter und Lehrmeister meiner Frühversuche als alpiner Alleingänger war. Von der Scheichenspitze sah ich zum erstenmal den Koppenkarstein in seiner Größe und Wucht. Eine Götterburg? Die Phantasie eines Knaben und Halbwüchsigen hat keine Grenzen. Dort der weit gegen den „Stein" ausschwingende Grat? Soll ich ihn versuchen, darf ich ihn versuchen? Radio Radiis gab mir Auskunft: ,,Über den Nordostgrat. Sehr schwierige, sehr ausgesetzte Kletterei." Nein, das war noch nichts für mich. Wer waren die Erstbesteiger? Da las ich „Josef Mühlmann und Karl Schrom, am 30. Juli 1916."
Wer wohl dieser Josef Mühlmann war? Ich ahnte nicht, daß er die Tour in den Heimatbergen während eines kurzen Fronturlaubs machte, daß er zu den Wiener Alpi-nisten zählte, die dem 1. Kader der Kaiserjäger-Bergführer angehörten, und sich an den Frontabschnitten Pasubio und Adamello durch besondere Tapferkeit auszeichnete. Für mich war der Name Josef Mühlmann verbunden mit dem Nordostgrat des Koppenkarsteins.
War es Zufall? Fügung? Im Dachsteingebiet, als ich die alpinen Kinderschuhe längst abgetreten hatte, erhielt ich die erste persönliche Botschaft von Josef Mühlmann. Ich war in den Dachstein-Südwänden längst zu Hause. Den Koppenkarstein-Nordostgrat hatte ich aber noch immer nicht gemacht. So nachhaltig wirkte der Eindruck aus meinen Knabentagen. Im August 1928 traf ich in der „Steinerroute" Ferdinand Zimmermann, den unvergessenen ideensprühenden Feuerkopf.
Zimmermann sagte damals inmitten der großen Wand zu mir: „Sie also sind der Kurt Maix? Herr Rudi Fritsch von den ‚Reichensteinern' läßt Ihnen sagen, Sie mögen sich bei Herrn Mühlmann von den ,Reichensteinern' melden. Jeden Dienstag abends im Hotel Holzwarth in der Mariahilfer Straße."
Den Namen Rudi Fritsch kannte ich damals noch nicht. Ich war ja ein „Außenseiter" des Alpinismus. Aber Josef Mühlmann hieß für mich: Koppenkarstein-Nordostgrat. Ich sollte mich beim Koppenkarstein-Nordostgrat melden? Selbstverständlich ging ich nach meiner Rückkehr am ersten Dienstag abends in das Hotel Holzwarth zu den „Reichen-steinern".
Ich traf dort eine Gesellschaft froher Männer, dreißig oder vierzig oder mehr. Junge und ältere. Aber alle schienen wie geballte Ladungen von Frohsinn, Kraft und Übermut. Fast jeder einzelne hatte Rang und Namen in der alpinen Welt. Auch Alfred Horeschowsky war dabei, der damals wohl berühmteste und erfolgreichste Alpinist 'Osterreichs, Was sollte ich in diesem Kreis? Heimlich wollte ich mich wieder davonschleichen. Da rief vom anderen Ende der Tafel ein erstaunlich dicker Mann: „He, Sie, was wollen Sie hier? Wer sind Sie? Treten Sie näher!"
Ferdinand Zimmermann, der kleine, schwarzhaarige Feuerteufel, war auch da und rief: „Das ist der Kurt Maix!"
Darauf stand ein großer, blonder, ungemein sympathischer, sonniger junger Mann auf, kam mir entgegen, reichte mir die Hand. Es war Rudi Fritsch. Er hatte vor Jahren in einem Gipfelbuch eine Eintragung von mir gefunden, noch mit krackeliger Bubenhandschrift geschrieben, und davon Herrn Josef Mühlmann Mitteilung gemacht. Und Mühlmann ließ mich nicht mehr aus den Augen, obwohl wir uns doch gar nicht kannten. Da glaubt man, man wäre Einzelgänger und Außenseiter, und wird doch von diesem Josef Mühlmann beobachtet.
Wer also war dieser Mühlmann? Der dicke, völlig „unalpin" aussehende Mann, der mich zurückgepfiffen hat, war Josef Mühlmann. Das war der Koppenkarstein-Nordostgrat? Ich gestehe, daß ich enttäuscht war. Aber diese Enttäuschung wandelte sich in wenigen Wochen schon in Staunen, Verwunderung. Nicht nur beim Tauziehen... Ist es pietätlos, wenn man in einem Nachruf auch Lichter des frohen Schmunzelns aufleuchten läßt? Ich glaube, daß in Frohsinn mehr Pietät liegt als in einer Grabesmiene. Also, das Tauziehen. Ein beliebter Sport der Dienstagabende. Der lange Tisch wurde an die Wand gerückt, ein altes Seil war das Tau. Ein Seil, das in den Bergen ausgedient und keine Elastizität mehr hatte. Man zog mit aller Kraft hinüber, herüber ...Mühlmann durfte sich meist keiner Partei anschließen. Er war einfach zu stark. In der Fetthülle waren Muskeln eingebettet, wie man sie in solcher Masse nur noch bei Wiens „starken Männern", bei den Gewichts- und „Fasselstemmern", fand. Und einmal geschah es: Mühlmann stand allein an einer Seite des Taues, sechs junge kräftige „Reichensteiner" an der anderen.
Man nahm Griff, man zog. Es war den sechsen unmöglich, Mühlmann aus dem Stand zu ziehen. Da gab einer flüsternd das Kommando: „Auslassen!" Alle sechs ließen gleich-
zeitig aus. Mühlmann flog, wie katapultiert, durch den Saal, durch die Schwingtür — die sich hinter ihm gleich wieder schloß — in den nicht erleuchteten Vorraum. Von dort hörte man den gewaltigen Aufprall, das Splittern von Tischen und Stühlen. Die sechs „Tauzieher" wagten kaum zu atmen, auch der „geheime" Kommandogeber machte ein Gesicht wie ein überführter Missetäter.
Hat sich Mühlmann schwer verletzt?
Bevor noch einer nachschauen konnte, hörte man hinter der Schwingtür ein Schnaufen, Ächzen und Murmeln, und dann stand „Pepi" schon wieder in der geöffneten Tür. Er brummte lautstark, aber undeutlich wie immer: „Blöde Witz', blöde!"
Wer und wie war Josef Mühlmann wirklich? Er war Lehrer. Ein strenger und guter Lehrer. Man merkte auch in seiner Vereinstätigkeit seinen Beruf. Er befahl, fragte und
erwartete eine richtige Antwort. Gab er seiner jeweiligen Umgebung auch Noten? Er
wußte ungeheuer viel. Allgemein, vor allem in der alpinen Geschichte, von der alpinen Literatur, von allem, was die Beziehung des Menschen zum Berge betraf. Es gibt nichts
Demokratischeres als einen Verein, vor allem eine alpine Gemeinschaft von Individua-
listen, wie es die „Reichensteiner" waren. Ich erinnere mich noch gut an die Charakterisierung der einzelnen Mitglieder, die der damals junge Karl Dreßnandt in Gedichtform
gebracht hat, zum Ergötzen des „Reichensteiner Stiftungsfestes" in Gstatterboden, 1929.
Über Josef Mühlmann hörte man (ich zitiere aus der Erinnerung): „Ruhlos im Verein kreist Mühlmanns kolossaler Geist ... Nach Bergen man ihn befragen will, nach neuem
Weg, nach neuem Ziel ... Nachdenklich er den Finger hebt und dann die Augen er verdreht, setzt er die Masse dann in Schwung — 230 Pfund, das ist kein Hund — ... Seite 9, Zeile 3, am 15. Juli 1902 ..." Mühlmann war das wandelnde alpine Lexikon. Ich erlebte dies selbst, als ich 1929 mit Rudi Fritsch in die Presanella fahren wollte. Mühlmann sagte aus dem Stegreif:
„Von der Segantinihütte aus sind als Neutouren zu machen: Der Monte-Nero-Ostgrat, die Monte-Nero-Südostwand, der Südgrat der Cima d'Amola. Und wenn ihr dann noch Zeit habt, die große klassische Jahn-Sohm-Route auf die Cima Presanella."
Die drei Neutouren brachten wir heim. Zur Jahn-Sohm-Route reichte Rudis Urlaub nicht mehr. Josef Mühlmann registrierte unsere „Erfolgsmeldung" aus der Presanella mit
einem unverständlichen Brummen. Nicht unfreundlich, aber auch nicht allzu freundlich. Ich glaube, der „kolossale Geist" hat uns damals die Note 2 bis 3 gegeben. Das war schon viel für einen so strengen Lehrer.
1930/31 rief Mühlmann die Jungmannschaft der „Reichensteiner" ins Leben. Wie er das machte, würde den Rahmen dieses Aufsatzes sprengen. Er suchte nicht weltberühmte
junge Alpinisten, sondern bergbegeisterte. junge Männer, die befähigt waren, in die erste
Klasse des Alpinismus aufzurücken, um die Tradition der „Reichensteiner" weiterzuführen. Am liebsten nur der Reichensteiner. Eine einzige Ausnahme bildete der DAK. Es war
seit jeher Streben und Ehrgeiz jedes jungen „Reichensteiners", so gut zu werden, daß er
in den „Österreichischen Alpenklub" aufgenommen wurde. Ruh'los im Vereine kreist ... 1931 war für die „Reichensteiner" das größte Erfolgsjahr. Im Frühsommer gelang Sepp Schintlmeister, Karl Moldan und Hugo Rößner die Erstdurchsteigung der Dachlnordwand im Gesäuse. Und wenige Wochen darauf die Überschreitung der gesamten Besingimauer im Kaukasus durch Schintlmeister, Moldan und Poppinger. Eine Tour, die noch heute als die schwerste, längste, anstrengendste und gefährlichste im ganzen Kauka-
sus gilt. Mühlmanns Jungmannen ... Eine so schlagkräftige Bergsteigergruppe, eine mit einer so lebendigen Tradition erfüllte Sektion braucht ein eigenes Heim, eine eigene Geschäftsstelle. Oder? Wer soll das bezahlen?
Ruhlos im Vereine kreist ... Im Vereine mit demokratischen Statuten, mit demokratischen Spielregeln. Der ruhlos im Vereine kreisende Geist war aber diktatorisch. Von
vielen Altersgenossen geschätzt, von der Jugend geliebt, gleichgültig welche Funktion Josef Mühlmann im Ausschuß der „Reichensteiner" bekleidete: Erster Vorstand, Zweiter Vorstand, Schriftführer, Bücherwart, Säckelwart
Wenn ich an Josef Mühlmann denke, fällt mir immer eine Anekdote vom alten originalen und originellen General Galgotzy ein. Dieser k. k, General hatte — ich glaube so um die Jahrhundertwende — den Auftrag bekommen, in Galizien eine Straße zu bauen. Die Straße wurde auch pünktlich fertig. Da forderte das k. k. Kriegsministerium Rechnungslegung und Belege. Der alte Haudegen antwortete: „15 000 Kronen erhalten. 15 000 Kronen ausgegeben. — Galgotzy."
Das Kriegsministerium war erbost. Urgierte. Genau, genauer, genauest wolle man alles wissen. Und' wieder antwortete der General: „15 000 Kronen erhalten. 15 000 Kronen ausgegeben — Galgotzy." Diesmal stand aber unter der „Rechnung" ein Nachsatz: „Wer's nicht glaubt, ist ein Esel!"
Der Kriegsminister persönlich bat den Kaiser um Audienz, legte Galgotzys letzte „Abrechnung" Franz Joseph vor. Dieser schmunzelte: „I glaub's."
Mühlmann war kein Galgotzy, und er fand auch keinen schmunzelnden Kaiser. Jahrelang traf man ihn abends oder nachts nur in Kaffeehäusern, die für ihn, den alternden Junggesellen, Heimstatt waren, wie für weiland Peter Altenberg. Nach dem Zweiten Weltkrieg schrieb er auf Veranlassung Alfred Horeschowskys auf Kaffeehaustischen hunderte Briefe und Karten, bis er alle „Reichensteiner" zusammengetrommelt hatte, soweit sie noch am Leben waren. Das war eine große Tat in jenen Hungerjahren. Mühlmann selbst war alt geworden, er fand den Anschluß an die neue Zeit nicht mehr.
Aber auf seinem Sterbelager wuchs er nochmals über sich hinaus. Mit überlegener Ruhe, ohne zu klagen, schaute er dem Tod entgegen. Als Kaiserjäger — Bergführer — als Mann. So steht er in unserer Erinnerung.
Kurt Maix
Quelle: Österreichische Alpenzeitung 1967, November/Dezember, Folge 1356, Seite 152-155
Geboren am:
15.05.1891
Gestorben am:
29.10.1965
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