Martin Alfred von Dr.
(
Bearbeiten)
Biografie:
Martin Alfred von Dr., * 24. Juli 1882 in Berlin, später Rothenburg/Oberlausitz,
1919 Frankfurt, später in München, 1931 Göttingen, ab 1945 München
+ 11. Juni 1979 München
Alfred Martin ging oft mit einheimischen Führern, aber auch mit Günter Dyhrenfurth, Hermann Rumpelt und anderen Bergsteigern.
Bergtouren führte er in den Pyrenäen,in der Hohen Tatra, auf Korsika,im Wilden Kaiser,in den Dolomiten und in den Walliser Alpen durch. Ihm gelangen 45 Erstbesteigungen und Erstbegehungen und viele Winterbesteigungen.
1903 Best.Fünffingerspitze,2996m, (Langkofelgruppe)
1903 Best.Langkofel,3181m, (Langkofelgruppe)
1903 Best.Vajolettürme,2813m, (Rosengarten)
1905 1.Best.Dénesspitze (Malé Rysy),2430m, (Hohe Tatra)
1905 1.Best.Drachenspitze (Draci stít),2523m, (Hohe Tatra)
1905 1.Best.Dubketurm (Osarpanec), (Hohe Tatra)
1905 1.Best.Krotenseespitze (Javorový stít),2417m, (Hohe Tatra)
1905 1.Best.RoterTurm (Siroká veza),2461m, (Hohe Tatra)
1905 1.Best.Papirustaltürme (Cierne veze), (Hohe Tatra)
1905 1.Beg.Mengsdorfer Grat "Martinkamin", (Hohe Tatra)
1905 1.Beg.Gerlachspitze-Grat vom Polnischen Kamm "Martinweg", (Hohe Tatra)
1905 1.Best.Tatraspitze (Vysoka)-Südostgrat über die Drachenspitze, (Hohe Tatra)
1906 1.Beg.Grubreisen-Melzerturm-Südwestwand "Südwestwandkamin",2223m, (Karwendel)
1906 1.Winterbest.Kesmarker Spitze (Ke?marský ?tít),2558m, (Hohe Tatra)
1908 1.Beg.Krotenseespitze-Nordwand (Javorove),III,2424m, (Hohe Tatra)
1908 1.Beg.Zehner (Sass dals Diesc)-Südostwand „Martin-Rumpelt“,III,2916m, (Sella,Dolomiten)
1910 1.Winterbest.(Skibest.) Alphubel,4206m, (Mischabelgruppe,Walliser Alpen)
1913 1.Skibest.Castor-Hauptgipfel,4228m, (Monte Rosa-Stock,Walliser Alpen)
1920 Überschr.Tête de Valpelline,3802m, (Walliser Alpen)
1920 Überschr.Dent d'Herens über Ostgrat,4171m, (Walliser Alpen)
1920 Überschr.Gran Paradiso,4061m, (Grajische Alpen)
1932 Teilnehmer Grazer-Nordalbanischen Alpen-Expedition
1935 Best.Kampfturm, (Großer Zschand,Sächsische Schweiz)
1.Best.Schwarzes Horn, (Schmilkaer Gebiet,Sächsische Schweiz)
Best.Breithorn,4164m, (Walliser Alpen)
Best.Dom,4545m, (Walliser Alpen)
Best.Dufourspitze,4634m, (Walliser Alpen)
Gerd Schauer, Isny im Allgäu
Alfred von Martin
*24. Juli 1882 — (+) 11. Juni 1979
Als ich in den Jahren um 1945 an einer Psychologie des Bergsteigens arbeitete, schrieb ich an ungefähr 50 bis 60 der damals bekanntesten Bergsteiger der klassischen Zeit und der jüngsten Vergangenheit und bat um Beantwortung dreier Fragen: 1. Wie bin ich Bergsteiger geworden, 2. Was ist mir beim Bergsteigen das Wertvollste, und 3. Warum bin ich heute noch Bergsteiger. Eine der ersten Antworten kam von Professor Alfred von Martin aus München. Seit dieser Zeit sind wir beide in ununterbrochenem Briefwechsel gestanden: Diese lange Zeit hat uns näher zusammengeführt, als es vielleicht einige gemeinsame Fahrten vermocht hätten, und ich lernte Martin nicht nur als hervorragenden Bergsteiger, sondern noch viel mehr als geistig hochstehenden Menschen kennen, dessen Werke, vor allem „Ordnung und Freiheit" sowie „Mensch und Gesellschaft heute" (1), mich tief in die Soziologie der humanistischen Tradition einführten. Er war Universitätsprofessor, Dr. jur., Dr. phil., Dr. rer. pol. h. c. und Mitglied der Ludwig-Maximilians-Universität in München und lehrte an der Sozialwissenschaftlichen Fakultät.
In einer guten Stunde hat Professor Martin, wohl angeregt von den gestellten drei Fragen, seine Lebensgeschichte als Bergsteiger geschrieben: Da sie zugleich auch ein Stück Klubgeschichte enthält, sei sie, auch in Erinnerung an alte Klubkameraden, als Nachruf hier nacherzählt.
Mit Alfred von Martin (Klubmitglied Nr. 2) starb einer der letzten Bergsteiger aus der guten alten Zeit — wenn man den Ausdruck in seiner Doppelsinnigkeit nimmt und einmal mit romantischer Sehnsucht auf sie zurück- und andere Male mit achselzuckender Gering¬schätzung auf sie herabblickt! Es war, auch in den Bergen, die Zeit vor der Vermassung und den Technizismen, in ihrem vielfachen Sinne; die Natur war noch unberührter, die Lebensform noch persönlicher. In einem besonders beliebten Standquartier wie Zermatt trafen sich zu Anfang des Jahrhunderts die deutschen Bergsteiger noch gern zu einer abendlichen Runde, bei der die mit einem gewissen populären Nimbus umkleidete Frau Noll v. Hasenclever eine Art Ehrenvorsitz führte, mit der man aber auch gern eine Tour unternahm, z. B. Dyhrenfurth und M. auf die Dent d'Herens. Ganz anderer Art waren freilich auch die damals noch geltenden Schwierigkeitsmaßstäbe. Vielleicht am deutlichsten zeigte sich das im Fels. Als Martin 1903 mit einem früheren Mitschüler die südlichen Vajolettürme überschritt, trug diese Tour im offiziellen „Hochtourist" noch das Prädikat „Äußerst schwierig, an der Grenze des Möglichen". Der Sohn, der schon Fünfer zu buchen hatte. korrigierte dann mit liebenswürdigem Achselzucken: „Na ja, schwerer Vierer." Eine zu gleicher Zeit durchgeführte kreuzweise Traversierung der Fünffingerspitze würde heute höchstens als Kuriosum gelten.
Der Weg des in alpenferner Umgebung Aufgewachsenen zu den Bergen hatte schon früh den ersten Anlauf genommen, als der Görlitzer Gymnasiast mit Schulfreunden und — bis auch da die Schi in Mode kamen — mit Sportschlitten (später Rodeln genannt) ins Riesengebirge zog, als kindliche Rivalen von den Ortsangesessenen mit mächtigen Hörnerschlitten etwas scheel angesehen. Wenigstens im Winter war das Riesengebirge noch erfreulich schwach bevölkert und hatte noch viel von seiner Ursprünglichkeit behalten — der so guten alten Zeit. Außer den Kindern von den Bauden, die schon auf Schiern zur Schule liefen und von denen man (nach damaligen Begriffen vom Schilaufen) einiges lernen konnte, und den wenigen stolzen Mitgliedern des „Skiclub Windsbraut Schreibers¬baude", mit denen man gern Freundschaft schloß, traf man nur wenige von weither bis Breslau oder Dresden) Kommende, und man kannte sie alle. Mit Bauden wie der Wiesenbaude fühlte man sich persönlich verwachsen und folgte dem dortigen Winterwart, als er sich selbständig machte, auf die Fuchsbergbaude. Gerade in diesen kleinen Verhältnissen konnte man das Glücksgefühl eines natürlichen Zuhause genießen, das Martin unvergeßlich blieb und das doch Eindrücke zu vermitteln vermochte wie von einer anderen, einer „höheren" Welt.
Noch in die Schulzeit fiel auch mit einem Ferienaufenthalt in Berchtesgaden die erste Bekanntschaft mit den Alpen und die Liebe auf den ersten Blick samt einem Verlangen nach mehr. Und indem ein Görlitzer Mitschüler gerade in Innsbruck sein erstes Semester absolviert hatte und anschließend noch ein Stück Hochgebirge sehen wollte, war auch der Gefährte zur Hand für Marmolata, Venediger, Glockner. Das war die Introduktion Anno 1900. Das Lausanner erste Semester rückte dann die Westalpen in Reichweite: Montblanc, Monte Rosa, Finsteraarhorn. Danach folgte für drei Sommer die andere Hauptattraktion: der Dolomitfels. Neben diesen beiden Hauptinteressengebieten suchte Martin aber das Ganze der Alpen kennenzulernen: Er machte beim Dauphiné (mit der Barre des Êcrins und der Meije-Überschreitung) nicht den üblichen Halt, sondern stieg noch als 79jähriger auf den Monviso, zugleich die See- und die Ligurischen Alpen besuchend. Von den Vier¬tausendern bestieg Martin 72, unter Mitzählung der Wiederholungen 96. Die schweizeri¬schen waren darunter ausnahmslos vertreten; in der Montblancgruppe fehlten die bedeutenden Gipfel des Pétéregrates, besonders die Aiguille Blanche (von Blodig noch im Alter erstiegen), die großen Nebengipfel der Verte und der Aiguilles du Diable, bei Einbeziehung aller, auch fragwürdiger, benannten Pointes, allerdings 22.
Martins erster langjähriger Gefährte — von 1905-1920 — über den Ersten Weltkrieg hinweg, den sie verschiedenen Orts absolvierten, war Günter Dyhrenfurth, ein schlesischer Landsmann, mit dem der beiderseitige Studienort Breslau und die damalige Rarität von Bergsteigen und Schifahren dortselbst ihn zusammenführte. Auch er war ein Freund des Riesengebirges wie der Hohen Tatra. Später fand Martin, obwohl er am Wiener Klubleben kaum Gelegenheit hatte teilzunehmen (außer. daß er einmal einen Vortrag hielt über Erschließungstätigkeit in der Tatra), doch verschiedentlich Kontakt mit österreichischen Klubbrüdern — sei es, daß man sich auf einer Hütte begegnete, wie mit Eduard Mayer, mit dem Martin zunächst das Aletschhorn bestieg und dann weiterging ins Wallis, sei es, daß man in einem Standort wie Zermatt sich kennenlernte, wie mit Dr. Schneck, oder auch zu vielfachen Verabredungen gelangte wie mit Obersteiner. In der Hohen Tatra freundete er sich mit ungarischen Bergsteigern auf der Südseite und polnischen (meist aus Lemberg) auf der Nordseite an. Dort wurde man mit ungewöhnlicher Herzlichkeit am gemeinsamen Tisch der Schutzhütte am Fischsee aufgenommen; und mit Gyula von Komarnicki aus Budapest durchstieg er von einem Biwakfeuer aus erstmals die gewaltige Nordwand der Antonienspitze — zwei von Martins Berggefährten, der Dresdner Hermann Rumpelt und der Wiener Erwin Urban, starben den Bergsteigertod.
In seinen bergsteigerischen Motiven vereinten sich zwei ganz verschiedenartige Momente. Dem spontanen, jedem Bergsteiger naheliegenden Lebensgefühl als Unternehmungslust gewann er unabgebrauchte Reize ab; und damit verband sich eine ihm sehr persönliche zu eigen bewußte funktionale Wertschätzung. Zu beiden Seiten wäre einiges zu sagen. Es waren winterliche Hochtouren zu einer Zeit, in welcher die Ausgangsorte wie Zermatt, Saas-Fee oder Zinal noch im Winterschlaf zu liegen pflegten — was die Unternehmungen in besonderer Weise reizte —, aus dem sie notdürftig zu wecken waren, zu einer Zeit, in welcher der Alphubel nebst Überquerung des Alphubeljoches als Schitour (1910) noch eine Novität war, bei der das Hochgebirge wie ausgestorben war, ebenso wie Weißmies oder Pollux oder die zweite Schiersteigung nach Marcel Kurz des Bieshorns. Und wollte man damals oder früher etwa in der Hohen Tatra (durchgängig erste) Schitouren unternehmen, so waren auch die Hotels im Winter geschlossen; dafür freilich fand man behagliche Unterkunft und gern gewährte Gastfreundschaft bei einem Forstheger am Fuß der Berge. Das Interesse für die Hohe Tatra war zwar vorgegeben durch die gute Erreichbarkeit von Breslau, doch auch die Anziehungskraft des Andersgearteten spielte mit. Dafür aber erlaubten die bescheidenen Möglichkeiten, die Erwartungen jener Zeit nicht, in außer¬europäische Fernen zu schweifen, die noch Ausnahmsfällen vorbehalten blieben: Anzie¬hungskraft übten schon die Pyrenäen oder Korsika aus, und ein erwünschenswerter Anschluß war die Teilnahme an jenen Exkursionen in die bosnisch-montenegrinischen und
dann in die nordalbanischen Gebirge, wie sie Ludwig Obersteiner mit Grazer Genossen arrangierte: Davon war auch er gefesselt, trotz Wallis und Montblancgebiet. Eigentliche Abenteuer waren eher in größeren Höhen zu erleben. Mit in festester Erinnerung blieb Martin eine Tour mit Dr. Schneck von Zermatt aus, die als Übergang vom Täschhorn zum Dom gedacht war, jedoch jenseits des Täschhorngipfels von einem schweren Wettersturz überrascht wurde. Dichter Nebel, reichlich Neuschneefall und Schneesturm zwangen sehr früh zu einem halbwegs geschützten Biwak unter dem Grat oberhalb des Domjoches. 50 Stunden nach dem Weggang von der Kienhütte waren wir nach dort zurück.
Ein Pendant kleineren Formats hatte sich 20 Jahre zuvor am Ferrnedaturm abgespielt. Geplant war von Martin und dem mit ihm gehenden Schulfreund die Überschreitung, die sie indes aufgaben, nachdem ein Wetterumschlag die Nordflanken in Schnee und Eis gehüllt hatte. Von einer Zufallsbekanntschaft aber, dem unterwegs getroffenen Wiener Alleingänger Albin Roessel, einer etwas seltsamen und tollkühnen Figur, ließen die zwei sich umstimmen. Die verschneite Nordwand und die vereisten Kamine kosteten so viel Zeit, daß die einbrechende Dunkelheit zum Biwakieren in den durchnäßten Sachen zwang. — In akute Lebensgefahr freilich, in der Überleben nur Glückssache war, geriet Martin nur einmal, und paradoxerweise im Riesengebirge, wo er — am Hinterwiesenberg im Nebel die Richtung verlierend — mit Schiern an den Füßen über eine Wächte 40 Meter tief in den Riesengrund stürzte.
Was aber Martin mit solcher Dauer und Exklusivität den Bergen treu bleiben ließ — über die Spontaneität eines Lebensgefühls hinweg und willig verzichtend auf anders geartete Reiseziele —, war das persönliche Gefühl eines Bedürfnisses, das Bewußtsein des wissenschaftlichen Arbeiters, in seinem inneren Haushalt hatte das Bergsteigen eine lebenswichtige, also unentbehrliche Funktion zu erfüllen: als Ausgleich der notgedrun¬genen fachlichen Vereinseitigung — wenn auch durch eine andere als psychisches Äquivalent.
So gelangte das Tourenverzeichnis auf nahe an zweitausend Eintragungen (inbegriffen die immer gern besuchten Klettergärten — nicht ausschließlich, doch vorzugsweise — der Sächsischen Schweiz und meist unter Führung Dresdner Experten — erst Rumpelt, später Lamprecht, welche Gefährten auch in den Alpen waren).
Wie er die wissenschaftliche Tätigkeit lange fortsetzte, bis zum 76. Jahr die Professur versah und noch mit 93 publizierte, so wurde er alt auch in den Bergen. Noch mit 72 war er mit Dr. Urban im Wallis, und unmittelbar von der letzten Kollegstunde kommend, stattete er dem alten Matterhorn in Normalzeit einen letzten Besuch ab. Als 80jähriger ging er noch vom Diavolezzahaus auf den Piz Bernina, und im Jahr danach beendete er die Reihe der Viertausender mit der Wiederholung des Gran Paradiso. Dann war der beiderseitigen Möglichkeiten ein schicksalhaftes Ende beschieden: durch ein Nicht-mehr-gehen-Können zuerst — das wissenschaftliche Arbeiten hatte sich zuletzt zu behelfen ohne das Äquivalent — und danach auch durch ein Nicht-mehr-sehen-Können, hinterlassend nur den unerwünschten Ruhestand des Sich-Überlebens im Weitervegetieren.
So wollen wir unseres lieben, treuen Alfred von Martin, dem Vorbild eines Bergsteigers klassischer Prägung, deren guter Geist mehr als hundert Jahre in unserem ÖAK webte und lebte, immer ehrend und mit freudigem Herzen gedenken. In der Geschichte des Bergsteigens waren die „Alten" Herren ihrer Zeit, aber auch Herren in den Bergen, und viele von ihnen, im In- und Ausland, waren unsere Klubkameraden, welche wir in unser
Gedenken stets einschließen wollen.
1) Beide Werke im Verlag Josef Knecht, Frankfurt/Main.
Walcher
Quelle: Österreichische Alpenzeitung 1979, Nr. 1428 November/Dezember, Seite 329-332
Quelle: Adolfo Hess, Saggi sulla psicologia dell'alpinista, 1914, Seite 375 ff (siehe Anhang)
Geboren am:
24.07.1882
Gestorben am:
11.06.1979
Martin_Alfred_von2_-_Adolfo_Hess.pdf
Erste Route-Begehung